Kapitel 10 – Kollaboration
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Auf der Versammlung waren natürlich alle Tiere anwesend: Hektor mit seinen Hirschen, die Wildschweinrotte, der alte Dachs, das ganze Wolfsrudel und sogar einige der sonst so selten gesehenen Waschbären hatten sich eingefunden. Auch dutzende Nager, Groß und Klein, kamen aus allen Winkeln des Waldes, um den Fuchs zu bestaunen, der eine Maus zum Freund hatte. Und über all ihren Köpfen zwitscherten und krähten die Vögel in den Bäumen, die ebenso zahlreich vertreten waren.
Als Gegenstand der Versammlung, musste Dexter in der Mitte der Lichtung Platz nehmen und die neugierigen Blicke der zusammengekommenen Schar erdulden, die auf ihm ruhten. Tod konnte er in der Menge nicht ausmachen, aber er sah Marty. Der junge Fuchs hatte mit den Füchsen aus dem benachbarten Revier einen Platz am Rande der Lichtung eingenommen, um das Geschehen zu verfolgen. Die anfänglichen Raufereien zwischen Marty und den übrigen Rüden des Territoriums schienen wohl beigelegt zu sein und waren einer gewissen Solidarität gewichen. Insbesondere mit der hübschen Fähe schien er sich blendend zu verstehen, auch wenn die gegenwertige Situation einen bedrückenden Schatten über alle der anwesenden Füchse warf.
Minka, die Katze, der er den ganzen Schlamassel zu verdanken hatte, wartete neben der Hirschherde ungeduldig auf ihren großen Auftritt, um es dem Fuchs heimzuzahlen, der sie so oft gejagt hatte. Für ein Haustier der Menschen war es höchst ungewöhnlich einer Versammlung der Waldtiere beizuwohnen, aber als Zeugin wurde für sie eine Ausnahme gemacht. Kein Einzelfall! Wage erinnerte sich Dexter daran, dass etwas Ähnliches bereits geschehen war als Atrox der Wolf noch Stärkstes Tier des Waldes war.
Dann plötzlich spaltete sich die Herde der Geweihträger und Hektor betrat die Lichtung. Hoch ragte sein mächtiges Gehörn auf als er mit erhobenem Haupt auf Dexter zuging und kurz vor ihm zum Stehen kam. Musternd blickte er einmal in das zusammen gekommene Rund, dann eröffnete er die Versammlung.
„Wir haben uns heute hier versammelt, um uns die gegen Dexter den Fuchs vorgebrachten Vorwürfe anzuhören und uns ein Urteil zu bilden. Dexter wurde der Kollaboration bezichtigt – der widernatürlichen Zusammenarbeit und Verbrüderung mit einer verfeindeten Spezies, was, wie allgemein bekannt sein dürfte, ein schwerwiegendes Verbrechen darstellt und gegen die Gesetze des Waldes verstößt“, erklärte Hektor mit seiner lauten, brummenden Stimme.
Mittlerweile fühlte sich Dexter tatsächlich wie ein Schwerverbrecher, obwohl er sich nach wie vor als Opfer in dieser Sache betrachtete. Die Ansprache des gewaltigen Bocks war in der Tat mehr als nur respekteinflößend gewesen. Immer noch lauschten alle Anwesenden Hektors gewichtigen Worten.
„Wir werden uns nun anhören, was die Beteiligten vorzubringen haben“, fuhr der Hirsch mit seinem Redeschwall fort, „und dann entscheiden, ob die Verbannung ein angemessenes Mittel ist, um Dexter für sein unnatürliches Verhalten sühnen zu lassen und die Ordnung im Walde wieder herzustellen. Als erstes hören wir Minka, die Katze, die den Vorfall aufdeckte und ihn uns zur Kenntnis brachte.“
Für Dexter hörte es sich so an, als wäre die Entscheidung bereits gefallen. Allzu große Hoffnungen auf einen für ihn günstigen Ausgang machte er sich nicht.
Stolz wackelte Minka über die Wiese, dorthin, wo sie jeder sehen konnte, um sicherzugehen, dass auch der letzte Waldbewohner mitbekommen würde, wie sie Dexter bloßstellen würde. Geschmeidig und elegant setzte sie sich ins Gras und legte ihren flauschigen Katzenschwanz um sich herum. Bevor sie sich der Menge zuwandte, rieb sie Dexter, mit einem triumphalen Grinsen im Gesicht, noch einmal seine vernichtende Niederlage unter die Nase.
Auf Hektors Bitte hin, ihre Beobachtungen zu schildern, begann die Katzendame mit ihrem großen Theaterstück: „Ich war auf einem Beutezug und verfolgte eine Maus bis an den Waldrand, dort, wo die Felder liegen. Und als ich mich anpirschte, tauchte plötzlich Dexter auf“, sprach sie und deutete auf den Fuchs. „Ich hielt mich zurück, denn ich wollte ihn nicht auf meine Beute aufmerksam machen.“
Nach dieser Bemerkung folgte eine leise, aber deshalb nicht weniger amüsante Schimpftirade einiger der anwesenden Nager, die Dexter der Katze, welche in ihrer minutiösen Erzählung so wüst von ihrem nächsten potentiellen Abendessen unterbrochen wurde, von Herzen gönnte. Leider wurde die Unterbrechung von Hektor nicht lang toleriert und so konnte Minka fortfahren.
„Als ich also ein Stück hinter der Maus zurück blieb, war ich verblüfft als ich merkte, dass sie auf den Fuchs zuzugehen schien. Und dann wurde es noch bizarrer, denn der Fuchs, Dexter, unternahm keinen Versuch die Maus zu fangen. Mehr noch!“, entfuhr es Minka. „Die beiden schienen sich zu kennen! Sie sprachen miteinander! Man könnte ihr Verhalten beinahe schon als ‚freundschaftlich‘ bezeichnen!“
‚Freundschaftlich‘ wäre nicht unbedingt das erste Wort gewesen, das Dexter in den Sinn käme, um die Verbindung zwischen ihm und Tod zu beschreiben, aber natürlich setzte die Katze alles daran, den Fuchs so sehr zu verunglimpfen, wie es nur möglich war. Und sie verstand es gut, ihre Übertreibungen auszuformulieren.
„Wie alte Bekannte unterhielten sie sich. Zeigten kein Anzeichen von Misstrauen oder Hinterhalt. Ich traute meinen Augen nicht! Nie zuvor habe ich ein so stolzes Tier des Waldes wie einen Fuchs auf einem solch niederen und schändlichen Niveau gesehen, dass er sich mit einer kümmerlichen Maus – nichts weiter als das letzte Glied der Nahrungskette – zusammentun würde!“ Erneut mokierten sich die Nager über Minkas Wortwahl, diesmal jedoch, ließ sie sich nicht unterkriegen und redete laut weiter: „Ein abnormes Verhalten. Geradezu unnatürlich!“, warf sie Dexter unverhohlen entgegen, welcher versuchte ihren Exaggerationen mit einer unangenehm kalten Gleichmütigkeit zu wiederstehen. „Eine schockierende Untat und gegen alles, was uns die Natur lehrt! Selbst ich, als Tier der Menschen, kann über eine derartig abscheuliche Missachtung der natürlichen Ordnung nicht hinwegsehen! Kein Tier, das ich je gekannt hätte, würde sich auf eine Stufe mit seiner Nahrung stell...“ An dieser Stelle wurde sie Unterbrochen.
„Schon gut, Katze!“, grummelte Hektor mit seiner autoritären Stimme. „Wir haben deine Meinung zur Kenntnis genommen. Nun berichte uns, was du mit angehört hast.“
„Sicher doch!“, entgegnete Minak förmlich. Ihr war jedoch anzusehen, dass sie dem Hirsch die Unterbrechung übel nahm. „Als ich also etwas näher heran kam, musste ich mitanhören, wie die beiden einen heimtückischen Plan ausheckten, um ein anderes Tier des Waldes zu töten!“
Ein Murmeln und Raunen überzog die Lichtung für einen flüchtigen Moment, in dem sich jeder fragte, wie eng die Verbindung der beiden tatsächlich war und welchen Grund es geben konnte, dass sich ein Fuchs und eine Maus zusammen gegen den Rest des Waldes stellen würden.
„Eine Kreuzotter sollte das Opfer dieser Intrige werden!“, fügte Minak an. „Eine Kreuzotter, die aufrichtig nach den Gesetzen des Waldes lebt und ebenso wie ich versuchte die Maus zu fressen, und der eben jene Maus nun nach dem Leben trachtet. Hinterhältig bat sie den Fuchs darum, diese Gräueltat zu begehen, welcher, zu meinem Entsetzen, bereitwillig zusagte! In diesem Augenblick wurde meine Anwesenheit bemerkt und dann versuchte Dexter, dieser heuchlerische Fuchs, MIR das Leben zu nehmen, um ihr widerliches, kleines Geheimnis zu schützen!“
Und mit dieser Lüge war Minkas Hasstirade dann endlich vorbei. Keine Sekunde zu früh Dexter. Bedauerlicherweise wahren ihre Worte glaubhaft genug verpackt, um den Fuchs vor den versammelten Waldbewohnern in ein mehr als unschmeichelhaftes Licht zu rücken. Zumindest für den Augenblick! Noch war nicht alles verloren.
Lauthals verkündete Hektor die Vernehmung des nächsten Zeugen: „Als zweites hören wir, als Dexters engsten Vertrauten, Marty, den Fuchs.“
Während Minak das Feld räumte, löste Marty sich zögerlich von seiner Gruppe und trat in die Mitte der Lichtung, wo er sich den Fragen des Hirsches stellen musste. Als engster Freund (oder besser gesagt ehemals engster Freund) von Dexter, war seine Perspektive eine wichtige Information für die Versammlung, um auch die Seite des beschuldigten Fuchses ausreichend zu beleuchten.
Natürlich hatte Marty keineswegs vor Dexter noch weiter in Bedrängnis zu bringen. Er mochte vielleicht einen Fehler gemacht haben (auch wenn es Marty schwer fiel eine Freundschaft als Fehler zu betrachten, selbst eine zwischen Maus und Fuchs) und er hat ihn mit seinen Lügen sehr verletzt, aber sie waren immer noch miteinander verbunden. Vielleicht nicht mehr als beste Freunde, aber Marty konnte Dexter jetzt nicht im Stich lassen!
„Also dann, Marty“, sprach Hektor. „Hast du von der hier vorgebrachten Kollaboration Dexters mit einer Maus oder dem Plan ein anderes Tier des Waldes zu töten gewusst?“
„N-nein.“
„Hast du die in diesen Fall verwickelte Maus persönlich gekannt, davon Kenntnis gehabt, dass Dexter sie kannte oder wusstest du, ob Dexter und besagt Maus jemals miteinander gesprochen haben?
Dieses Frage-Antwort-Spiel machte Marty etwas nervös, aber er atmete tief durch und nahm sich einen Augenblick Zeit, um die richtigen Worte zu finden, bevor er antwortete: „Ich hab gesehen, dass Dexter versucht hat Tod zu fressen. Ich hab ihn auch schon gejagt. Einmal habe ich ihn auf einer Versammlung gesehen. Aber darüber hinaus kenne ich ihn nicht.“
„Tod?“, fragte Hektor argwöhnisch. „Wenn du ihn angeblich nicht näher kanntest, woher kennst du dann den Namen der Maus?“
„Ich, eh...“ Die plötzliche Aggressivität des Bocks brachte ihn aus dem Konzept. Schnell überlegte er, wo er den Namen das erste Mal gehört hatte. Und dann fiel es ihm ein: „Den hat Dex mal erwähnt, glaub ich.“ Als er von ihm verlangt hatte die Maus in Ruhe zu lassen, einen Tag nachdem sie einen Streit hatten, bei dem ihm der Geruch der Maus aufgefallen war. Glücklicherweise konnte Marty diesen letzten Teil gerade noch zurückhalten, aber er hatte bereits genug gesagt, um Hektor misstrauisch zu stimmen.
„Interessant...“, grübelte der Hirsch vor sich hin. „Und gab es für dich zu irgendeinem Zeitpunkt Anlass dazu zu vermuten, dass Dexter und die Maus eine Freundschaft pflegten?“
„Naja... Dex hat sich in letzter Zeit zwar komisch verhalten, aber ich habe nie gedacht, dass er mit einer Maus befreundet wäre“, erklärte Marty und war erleichtert, dass er bis hierher nicht hat lügen müssen.
„Er hat sich komisch verhalten?“, wiederholte Hektor.
Verdammt! Jetzt hatte er sich verplappert. Noch bevor der Hirsch seine nächste Frage aussprechen konnte, wusste Marty bereits, was er fragen würde und formulierte die passende Antwort.
„In wie fern hat er sich komisch verhalten?“
„Er war mies drauf und hat viel rumgemeckert. Aber manchmal ist Dex halt so. Ich dachte, er hatte nur einen schlechten Tag erwischt, oder vielleicht kein Glück auf der Jagd gehabt.“ Mit dieser ungefähren Schilderung hoffte Marty sich aus der Affäre ziehen zu können. Das Beste wäre es, wenn er nur noch so wenig sagt wie möglich.
Schweigend musterte Hektor den jungen Fuchs vor ihm einen Moment lang, dann stellte er seine nächste Frage: „Und auch zu diesem Zeitpunkt hattest du nicht den Verdacht, dass zwischen Dexter und der Maus eine gewisse ‚Verbindung‘ besteht?“
„Nein.“ Und das war nicht gelogen.
„Gibt es sonst noch etwas, das du uns zu berichten hast?“ wollte Hektor wissen.
Wieder antwortete Marty mit einem einfachen: „Nein.“ Für den Augenblick hatte er wirklich genug gesagt.
„Bist du dir ganz sicher?“ harkte der Hirsch noch einmal mahnend nach, aber als Antwort erhielt er nur ein Nicken. „Also gut, du kannst nun gehen!“
Erleichtert atmete Marty auf. Er hoffte nur, dass er Dexter durch seine Aussage nicht in Schwierigkeiten gebracht hatte. Scheu warf er seinem alten Freund einen flüchtigen Blick zu, bevor er die Lichtung verließ. Dexter schaute ihn zuversichtlich an. Bedrückt, aber zuversichtlich, als wolle er ihm sagen, dass er sich keine Sorgen um ihn machen solle und dass er das schon irgendwie durchstehen wird. Und dass er dankbar dafür war, dass Marty ihn nicht aufgegeben hatte. Vielleicht hatte er aber auch einfach nur zu viel in diesen kurzen Augenblick hineininterpretiert?
Als nächstes kam Tod an die Reihe. Als Maus, einer Spezies, die gemeinhin als Beutetier galt, blieb er von den Konsequenzen der Versammlung verschont, ganz gleich, wie sie für den Fuchs ausgehen mochte. Dies war grundsätzlich bei Kollaborateuren niederen Ranges der Fall, denn selbstverständlich würde ein Beutetier in jedem Falle eine Freundschaft mit einem Prädatoren eingehen, um sein Leben zu retten oder, um sich einen Vorteil zu verschaffen, egal, ob die Gesetze des Waldes dies nun guthießen oder eben nicht. Für Raubtiere sah die Sache ganz anders aus. Für sie gab es keinen natürlichen Grund, eine innigere Verbindung mit ihrer Beute einzugehen, als diese zu verspeisen. Um die natürliche Ordnung also aufrechtzuerhalten, war die Kollaboration verfeindeter Spezies unter Androhung der Verbannung des ranghöheren Tieres verboten.
Um seine Verfehlungen wieder gutzumachen, war es für Tod selbstverständlich, Dexter seine Bitte zu gewähren und zu behaupten, sie seien in der Tat befreundet. Auch wenn dies einen Schuldspruch wahrscheinlich begünstigen würde, war er ihm das schuldig. Füchse, wie die meisten anderen Raubtiere auch, wahren sehr stolze Geschöpfe. Und Dexter erst recht! Eine solche Blamage wäre für ihn wohl nur schwer zu verkraften. Bislang hatte Minka gute Arbeit geleistet, ihn zum Gespött zu machen. Ganz zu schweigen von der drohenden Verbannung. So viel Strafe hatte selbst Dexter nicht verdient. Obendrein war er auch noch unschuldig!
„Du bist also diejenige Maus, die Dexter zum Freund haben soll“, begann Hektor, nachdem Tod seinen Platz eingenommen hatte. „Leugnest du eine Freundschaft zwischen dir und dem Fuchs?“
„Zuerst mal habe ich einen Namen. Und den kennst du, Hektor!“ Dass der Hirsch ihn seit Beginn der Versammlung nur mit ‚Maus‘ betitelt hatte, passte Tod gar nicht. Vielleicht mochte er als stärkstes Tier des Waldes auf ihn herabsehen, aber eine würdevolle Behandlung war doch keineswegs zu viel verlangt. Die einig angetretene Nagerschaft teilte seine Meinung.
Mürrisch gestand Hektor dem kleinen Mäuserich seinen Namen zu: „Also gut, Tod! Leugnest du nun die Freundschaft zu Dexter, oder nicht?“
Gespannt warteten die versammelten Tiere auf seine Antwort. Bislang war alles nur Spekulation gewesen: Gerede im Wald. Die überspitzten Anschuldigungen einer Katze. Einer Hauskatze! Nichts Handfestes.
„Nein!“ Ein leises Wispern breitete sich über die Lichtung aus, und noch bevor es sich wieder legen oder Hektor zu Wort kommen konnte, fuhr Tod fort: „Und daran ist auch nichts Verwerfliches oder Unnatürliches! Ihr könnt doch nicht ernsthaft etwas gegen eine Freundschaft zwischen Tieren einzuwenden haben, selbst, wenn diese Tiere biologische Feinde sind! So etwas hört man doch immer wieder!“
„Und genau diesem Treiben muss Einhalt geboten werden!“, erklärte Hektor. „Die Natur hat euch zu Feinden bestimmt, nicht zu Freunden. Eure Verbrüderung ist wiedernatürlich und gefährdet daher die Ordnung des Waldes.“
„Die Ordnung des Waldes? Wir sind keine Bedrohung für den Wald! Was sollten wir schon gefährden? Und außerdem wurden schon früher Ausnahmen in solchen Fällen zugelassen. Was ist mit Bao, dem Tigerpython, der die Nager für Eier in Ruhe lässt? Ich habe ihm auch schon eins gebracht! Wollt ihr ihn jetzt auch verbannen?“
Störrisch senkte Hektor den Kopf, um Tod direkt anzusprechen: „Bao ist kein natürliches Tier des Waldes! Seine bloße Anwesenheit ist eine Ausnahme! Aber wenn jedem Tier gestattet wäre, die uralten Gesetze unseres Waldes nach eigenem Gutdünken zu missachten, würde das das natürliche Gleichgewicht stören!“
Mit dieser Masche würde Tod bei dem Dickkopf wohl nicht weiter kommen. Hektor war für seine Leidenschaft für Recht und Ordnung ebenso bekannt wie für seine Unnachgiebigkeit. Vielleicht könnte er Dexter aber wenigstens etwas entlasten, indem er zumindest einen Teil seiner Schuld einräumte?
„An dem Plan mit der Kreuzotter war Dexter überhaupt nicht beteiligt!“, versicherte Tod. „Das war meine Idee. Ich habe ihn dazu angestiftet. Dexter wollte es nicht einmal tun, weil er wusste, dass es gegen die Gesetze des Waldes ist!“ An dieser Stelle schmückte er die Wahrheit zwar ein wenig aus, aber es war wohl kaum von Belang, ob Dexter sein Angebot die Schlange zu töten aus Gesetzestreue abgelehnt hatte, oder weil er einfach nur nicht das tun wollte, was Tod ihm sagte.
„Also gut, das genügt jetzt, Maus!“ raunzte der Hirsch ihn an. „Wir haben deine Schilderung der Umstände zur Kenntnis genommen. Du darfst dich jetzt entfernen.“
Doch Tod ignorierte ihn. „Komm schon, Hektor! Ja, gut, vielleicht haben wir’s ein bisschen zu weit getrieben, aber dafür kannst du Dexter doch nicht verbannen!“
„Das reicht jetzt! Wir werden nun Dexter anhören und dann das Urteil verkünden!“
Unzufrieden trat Tod den Rückzug an. Sein Beitrag mochte Hektor zwar nicht umgestimmt haben, aber vielleicht hatte er wenigstens bei einigen Waldbewohnern Sympathien für den Fuchs wecken können.
Nun saß Dexter allein mit Hektor auf der Lichtung.
„Also gut, jetzt zu deiner Sicht der Dinge, Dexter“, sprach der Hirsch. „Entspricht es der Wahrheit, dass du mit dieser Maus eine Freundschaft pflegst?“
„Ja“, antwortete Dexter mit klarer Stimme. Er konnte anhand Hektors Augen sein Urteil bereits erahnen, aber er würde die Sache mit Würde zu Ende bringen. Keiner sollte ihn als Trauerkloß in Erinnerung behalten, oder glauben, er würde nicht zu seinen Taten oder Entscheidungen stehen!
Streng nach Protokoll machte Hektor weiter: „Und war dir bewusst, dass die Kollaboration verfeindeter Spezies ein Verstoß gegen die Gesetze des Waldes ist?“
„Ja.“
„Also dann, Dexter. Du hast jetzt die Chance dich zu erklären, oder etwas zu deiner Verteidigung vorzubringen“, erklärte Hektor, der hoch über dem Fuchs aufragte und auf seine Antwort ebenso gespannt war, wie der Rest der Tiere.
Doch Dexters Aussage fiel ernüchternd aus: „Ich finde, dass alles, was gesagt werden musste, bereits gesagt wurde. Ich möchte nur noch einmal betonen, dass ich nicht gegen die Gesetze des Waldes verstoßen habe.“
Hektor war zwar anderer Meinung, aber ließ dem Fuchs diese Bemerkung durchgehen, ohne seine Aussage zu hinterfragen. „War das dann alles, was du sagen möchtest?“, fragte er. Als Dexter nickte, richtete der Bock sich an die versammelte Menge: „Wir haben allen relevanten Stimmen Gehör geschenkt und werden nun unser Urteil bilden! Soll der Fuchs Dexter der Kollaboration für schuldig befunden und des Waldes verbannt werden, oder nicht?“ Gebannt warteten die Tiere auf Hektors nächste Worte. „Stimmen gegen eine Verbannung?“, fragte er mit seiner brummenden Stimme.
Wie erwartet fiel die Resonanz bescheiden aus. Nur wenige Tiere konnten sich dazu durchringen, Dexter die Verbannung ersparen zu wollen. Zur Überraschung des Fuchses fanden sich allerdings unerwartet viele Nagetiere unter seinen Fürsprechern. Ob Tod etwas damit zu tun hatte, oder, ob sie von sich aus Beistand bekundeten, wusste er jedoch nicht.
„Stimmen für eine Verbannung?“ fragte Hektor als nächstes. Klar ersichtlich war die Mehrheit dafür und Hektor verkündete das entsprechende Urteil: „Dexter, du bist hiermit der Kollaboration für schuldig befunden und wirst aus dem Wald verbannt. Du musst uns unverzüglich verlassen und darfst niemals wiederkommen! Damit ist die Versammlung beendet.“
Und das war’s.
Kaum hatte Hektor diese Worte gesprochen, verschwanden die so zahlreich herbeigeeilten Gaffer wieder im Wald. Rasch leerte sich die Lichtung und Dexter konnte endlich wieder aufatmen. Mit seiner Verbannung hatte er gerechnet. Dass es wirklich so kam machte es nicht besser, aber wenigstens war der ganze Tumult nun vorüber.
Aus dem Augenwinkel sah er Marty von der Ecke der Lichtung her auf ihn zukommen. Die übrigen Füchse, mit denen er sich neuerlich zusammengetan hatte, folgten ihm und blieben ein Stück zurück, als sein Freund an ihn herantrat.
„Hey... Tut mir leid, Dex. Das mit der Verbannung, mein ich“, murmelte Marty verlegen. „Wie geht’s dir?“
„Ich komm schon durch“, versicherte Dexter ihm. Vom Thema abweichend deutete er mit der Schnauze hinter seinen Freund: „Neue Freunde?“
Marty blickte flüchtig hinter sich. „...Ja.“ Dexters Formulierung ließ die Lage in einem unschönen Licht erscheinen, aber er hatte Recht. „Das ist Livvy“, sagte er und meinte die Fähe der Gruppe, „das junge Mädchen von neulich. Erinnerst du dich?“
„Hm-hm, sicher!“ Der Gedanke, dass sein Freund jetzt wenigstens nicht alleine sein musste, tröstete Dexter ungemein. „Hübsch ist sie. Hoffen wir nur, dass sie dir eine bessere Freundin ist als ich.“
„Sag doch so was nicht, Dex! Du bist... warst mein bester Freund.“ Traurig lies Marty den Kopf hängen. Dieser Abschied war nur schwer zu ertragen.
Herzlich stupste Dexter ich an. „Du bist jetzt ein großer Fuchs, Marty. Du brauchst so einen alten Kerl wie mich nicht mehr, um auf dich aufzupassen.“ langsam hob Marty seinen Kopf. „Aber gib trotzdem Acht, dass Livvy nicht mit einer Maus durchbrennt, das sind pfiffige, kleine Kerlchen.“
Marty musste einen Augenblick lang lächeln. „War es die Freundschaft mit Tod wirklich wert, dafür verbannt zu werden?“
Dexter seufzte. Ihm jetzt die Wahrheit zu beichten fühlte sich nicht richtig an. Es würde nur falsche Hoffnungen in ihm wecken. „Was soll ich dir sagen?“, antwortete er schließlich. „Ein Fuchs will, was ein Fuchs will.“
„Du wirst mir fehlen, Dex.“
„Du mir auch, Marty.“ Mit einem letzten Blick über die Lichtung, auf der er so viele langweilige Versammlungen miterleben musste, richtete Dexter sich auf. „Lass deine neuen Freunde nicht warten“, sagte er. „Sonst brennen sie doch noch mit Mäusen durch!“
Mit einem traurigen Lächeln im Gesicht erhob sich nun auch Marty. „Mach’s gut, Dex!“, sagte er mit einem Knoten im Hals und drehte sich langsam um.
„Na geh schon, Kleiner. Leb wohl!“
Allein wartete Dexter, bis Marty und die anderen verschwunden waren. Plötzlich war es ganz still auf der Lichtung. Nur die Vögel hörte man leise aus der Tiefe des Waldes rufen. Für ein neues Abenteuer glaubte Dexter sich eigentlich schon zu alt. Lange schon hatte er angenommen, in diesem Wald seine ewige Ruhe zu finden. Fast sieben Jahre! Mehr als genug Zeit für einen Fuchs, um Abenteuer zu erleben. Und doch stand ihm nun ein neues bevor.
Dann machte er sich auf seinen Weg.
Ohne Freund und ohne Heimat streifte Dexter durch den Wald, der so lange sein Zuhause war. Bis an den Rand, wo die dichten Bäume den hügeligen Weiden für die Haustiere der Menschen wichen, ging er. Einen Moment hielt er inne und setzte sich auf die kalte Erde. Der Tag ging allmählich zur Neige und in der Ferne konnte der Fuchs die bunten Lichter der großen Menschenstadt funkeln sehen.
Ein ihm wohlbekanntes Tippeln kleiner Pfoten, neben ihm, ließ Dexter aufhorchen. Es war Tod, der ihm bis hier her gefolgt war.
Stutzig schaute Dexter zu ihm herab. „Was willst du denn jetzt noch, Tod?“
Erschöpfte von dem langen Marsch, der für den größeren Fuchs nur ein kurzer Lauf gewesen sein musste, setzte die Maus sich neben ihm auf den Boden. Einen Moment blieb der Mäuserich still, dann sprach er: „Weißt du, dass es für die Freundschaft nicht zu spät sein muss, das hab ich ernst gemeint, Dex.“
Überrascht zog der Fuchs eine Augenbraue nach oben.
„Wir sind vielleicht ein ungleiches Paar“, fügte Tod an, „aber wir waren ein echt gutes Team, oder nicht?“
„Najaaaaah...“, so recht wollte Dexter ihm nicht zustimmen, aber er verstand worauf der Nager hinaus wollte.
„Und dieses Mal verspreche ich, mich auch um dich zu kümmern und nicht nur umgekehrt!“
Amüsiert antwortete Dexter: „Da jetzt eh schon jeder glaubt, dass wir befreundet währen, macht es wohl keinen großen Unterschied mehr, ob wir es wirklich sind oder nicht, huh?“ Noch einmal schaute er in den dunklen Wald hinter sich. „Zudem ist die Stelle auch gerade frei geworden.“
„Das mit Marty tut mir leid. Ich wollte wirklich nicht, dass es so weit kommt.“
„Danke“, sagte Dexter bescheiden. „Aber das ist jetzt nicht mehr zu ändern.“ Dann sah er wieder Tod an. „Und aus der Freundschaft wird, fürchte ich, auch nichts. Ich muss den Wald verlassen, falls du es vergessen haben solltest.“
„Ich komm mit!“, versprach die Maus. „Ohne dich hab ich keinen mehr zum Austricksen. Dann wird’s hier bestimmt langweilig.“
Zufrieden grinste die kleine Maus zu ihm hinauf. Dann konnte auch Dexter ein Lächeln nicht mehr verbergen. Er, der Freund einer Maus?!
„Danke übrigens dafür, dass du auf der Versammlung nicht die Wahrheit gesagt hast und dass du dich für mich eingesetzt hast“, sagte Dexter.
„Wie gesagt, das war ich dir wohl schuldig.“
Plötzlich legte sich der Fuchs neben Tod auf den Boden. „Wenn du wirklich mit willst, dann Steig auf!“, sagte er.
Kichernd machte die kleine Maus einen Satz und landete weich auf Dexters Rücken. Sein roter Pelz bot Tods flinken Pfoten einen guten Halt. Mit einem Ruck richtete sich der Fuchs wieder auf und tapste los.
„An diese Art der Fortbewegung könnte ich mich glatt gewöhnen!“, sagte Tod, glücklich auf seinem neu gewonnenen Freund reitend.
Freundlich neckte Dexter seinen neuen Gefährten: „Mach’s dir nicht zu bequem da oben, hörst du! Eigentlich nehme ich dich nur als Notproviant mit.“
Beide lachten als sie über die weiten Wiesen in die dunkelnde Nacht verschwanden.
ENDE