Kapitel 6 – Schlangen sind geduldig
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Die Angelegenheit mit dem Tigerpython und dem Ei, nach welchem dieser verlangte, hatte sich für Tod inzwischen von einer kniffligen Zwickmühle zu einem ernstzunehmenden Problem entwickelt. Schlangen, so sagt man, sind geduldig. Die schlaue Seele, die einst diese Worte gesprochen hatte, war, soviel stand fest, definitiv keine Maus gewesen. Und sicherlich handelte es sich bei der genannten Schlange auch nicht um einen ausgewachsenen, hungrigen Monsterpython, der einen mit Haut und Haar auffrisst, wenn man ihm kein Ei brachte.
Die Situation war immer noch dieselbe: Schlange will Ei, Maus hat aber keines und weiß auch nicht, wo eines zu finden ist. Auf Bäume zu klettern kam für Tod nicht in Frage, dort wäre er den Vögeln schutzlos ausgeliefert. Leider konnte er auch seinen Freund Rudi, das Eichhörnchen, nirgends finden. Der listige Baumbewohner hätte bestimmt schnell ein Nest in den Baumkronen gefunden. Aber selbst dann müsste er es noch irgendwie fertig bringen, dass Bao, der Python an das Ei heran käme. Mit seinem meterlangen Körper konnte er sehr wohl auf Bäume klettern, aber bis in die Kronen, wo die Äste sich zu feinen Zweigen aufgabelten, vermochte er nicht vorzudringen. Sein Körper wäre zu schwer gewesen.
Aber auch mit der Suche am Boden wusste er sich noch nicht weiter zu helfen. Am See des Waldes lebten zwar Enten und andere Wasservögel, aber leider gab es dort auch riesengroße Frösche und Kröten, die, wenn sie den nur hungrig genug waren, auch vor einer Maus nicht Halt machen würden. Ganz zu schweigen von den Vögeln, an denen er auch noch vorbei musste.
Ein plötzliches Grummeln im Bauch der kleinen Maus erinnerte Tod daran, dass die Situation doch nicht immer noch ganz genau dieselbe war wie zuvor. Denn die verflixte Eiersuche ließ der Maus immer weniger Zeit, sich um ihre eigene Nahrungssuche zu kümmern.
Wehklagend fragte sich Tod, wie es anderen Nagern gelingen konnte, Eier für Bao aufzutreiben? Oder vielleicht war die ganze Sache mit der Abmachung nur gelogen? Ein von der Schlange verbreitetes Gerücht, um bequem an Eier zu gelangen?
Als Tod so darüber nachdachte, kam ihm jemand in den Sinn, der sich gerade mit einem nicht unähnlichen Nahrungsproblem herumschlagen musste. Allerdings ging es dabei nicht unbedingt um ein Ei. Jedenfalls noch nicht! Denn der Gedanke erinnerte Tod daran, dass er ja noch einen Trumpf ausspielen konnte.
Und so wurde die Suche nach dem Ei zur Suche nach dem Fuchs. Die Wahrscheinlichkeit als Maus auf einen Fuchs zu treffen war (un)glücklicherweise deutlich höher, als die ein Ei zu finden. So traf Tod auf Dexter, der gerade dabei war sein Revier abzuschreiten und zu markieren.
Natürlich blieb dem Fuchs die Anwesenheit der Maus nicht lange verborgen. „Ich dachte, wir haben uns darauf geeinigt, uns aus dem Weg zu gehen?“, brummte er noch bevor Tod ihn ansprechen konnte.
Vorsichtig hielt Tod etwas Abstand zu dem Fuchs, der auffällig unauffällig gelangweilt seiner Tätigkeit nachging und dann, als er fertig war, vor der Maus halt machte und seinen Hintern auf den Boden pflanzte.
„Ja, schon“, gestand Tod ein. „Aber jetzt sieht die Lage etwas anders aus. Ich brauch da bei was deine Hilfe.“
„Kannst du vergessen!“
„Gut“, sagte Tod herausfordernd. „Dann versuch ich’s mal so: Du wirst tun, was ich dir sage oder jeder im ganzen Wald wird erfahren, wie du Trottel in die Menschenfalle getappt bist und ich dich retten musste.“
Stolz wie eh und je schwoll dem Fuchs die Brust und er zog die Lefzen hoch, während er auf die Maus hinabsah und ihr folgendes unmissverständlich zu verstehen gab: „Glaub ja nicht, dass ich mich noch weiter von dir erpressen lasse!“
„wenn das so ist, empfehle ich dir, schon mal deine Sachen zu packen. Denn wenn unser kleines Geheimnis ans Licht kommt, wirst du mit Sicherheit verbannt.“
Der ansonsten so schlagfertige Fuchs hüllte sich daraufhin in Schweigen und schmollte, jedoch ohne dabei seinen miesen Blick von der Maus zu nehmen. Einen Augenblick ließ Tod Dexter Zeit, um seinen angeschlagenen Stolz zu verteidigen. Außerdem wollte er aber auch nicht zu dick auftragen, denn dem Fuchs musste bloß für einen winzigen Moment die Beherrschung entgleisen und Tod würde als Mahlzeit enden.
Zu langes Zögern konnte ihm aber auch als Schwäche ausgelegt werden und dann könnte es Dexter gelingen die Konversation zu seinen Gunsten zu wenden. Also ergriff die Maus wieder das Wort: „Jetzt hab dich doch nicht so, Dex! Immerhin geht es hier jetzt gewisser Maßen um MEIN Leben.“
„Wenn ich dir also helfen würde, dann wär‘n wir ja wohl quitt, was?“
Genau das hatte er gemeint. Der listige Fuchs ließ keine Gelegenheit aus, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Zum Glück hatte Tod bereits eine passende Antwort parat: „Wir wollen mal nicht gleich übertreiben. Meine Situation ist nicht ganz so akut wie deine es war.“
Wieder zeigte Dexter ihm die Zähne. „Schluss jetzt mit dem dummen Gerede! Was willst du von mir, Maus?!“
„Also gut“, begann Tod sein Vorhaben zu erklären. „Du erinnerst dich bestimmt noch an die Schlange von neulich, ja? Nun, ich schulde ihr gewissermaßen noch ein Ei. Lange Rede kurzer Sinn: Du sollst jetzt für mich eines auftreiben und ihr bringen.“
„Und wo um alles in der Welt soll ich ein Ei hernehmen?“
Dass der Fuchs genauso wenig auf Bäume klettern würde wie er selbst wusste Tod. Auch zum See würde er ihn wohl nicht so leicht bekommen, denn der lag ein ganzes Stück außerhalb seines Territoriums, welches Dexter nur sehr ungern zu verlassen pflegte. Aber für den alten Fuchs hatte sich Tod bereits etwas einfallen lassen: „Aus dem Hühnerstall vom Bauernhof!“
Eine Maus käme zwar auch problemlos in den Hühnerstall hinein, aber ob sie auch wieder heraus kommen würde war eine andere Frage. Hühner sind nicht unbedingt dafür bekannt Mäuse zu fressen, aber wenn eine an ihre Eier ran will, dann können sie sehr unangenehm werden. Einem Fuchs würden sie vermutlich eher ihr Ei überlassen, um sich selbst zu retten. Außerdem kümmerte es Tod nur wenig, ob Dexter ein paar Kratzer davontragen würde.
Aber der alte Fuchs ließ sich nicht so einfach auf den Vorschlag ein: „Kommt nicht in Frage!“
„Ach komm! Das hast du doch früher auch immer gemacht.“
Ein wenig geknickt musste Dexter der Maus zwar zustimmen, aber er hatte gute Gründe, sich vom Bauernhof fern zu halten. „Früher hatte der Bauer auch noch keinen Wachhund. Oder eine Flinte!“, rechtfertigte er sich. Erschwerend hinzu kam noch, dass Dexter auch nicht mehr der Jüngste war. Er würde jede Wette eingehen, dem dämlichen Köter von einem Haustier zu entkommen, aber warum ein Risiko eingehen? Das war etwas für junge Füchse, die nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wussten. Natürlich führte Dexter diesen Grund nicht an, um Tod zu erläutern, wie hirnrissig sein Plan sei.
Tod hatte sich aber auch auf diese Abfuhr eine pfiffige Antwort zurechtgelegt: „Du kannst dir auch woanders ein Ei suchen. Ich glaube nicht, dass die Schlange da sonderlich wählerisch ist.“
Entweder durfte der Fuchs sich nun selbst etwas einfallen lassen, oder er griff auf Tods Idee mit dem Bauernhof zurück. So oder so, eine neue Ausrede zu finden dürfte schwierig sein, wenn er vor der Maus nicht auch noch als Angsthase dastehen wollte.
„Nur damit ich das jetzt richtig verstehe“, lenkte Dexter geschickt vom Thema ab und klang dabei auch schon ziemlich genervt. „DU willst, dass ICH meinen Arsch riskiere, damit DU Deine Schulden bei der Schlange begleichen kannst, die dich vor MIR gerettet hat?!“
„Also... wenn du das so sagst, klingt das so, als ob ich eine fiese Ratte wäre,... aber im Grunde hast du schon Recht. Ja.“
Abermals zögerte der Fuchs damit eine Antwort zu geben.
„Ach komm schon, Dex!“, fuhr Tod fort. „Ich bin mir sicher, so ein großer, starker, schlauer Fuchs wie du kann so einem verpennten Haustier von Wachhund ein Ei abluchsen.“ Vielleicht half es ja, ihm ein wenig Honig ums Maul zu schmieren?
Dexter, aber, schwieg weiter. Er wusste, dass die Aktion ein enormes Risiko in sich barg. Denn selbst, wenn er dem Wachhund entkommen könnte, gab es ja immer noch den Bauern, der, durch den Hund allarmiert, auf ihn schießen würde.
Honig zeigte bei Füchsen offenbar keine Wirkung. „Ich bin mir auch sicher, dass der ganze Wald dich auslachen wird, wenn ich unser kleines Geheimnis verrate“, entgegnete Tod dem Schweigen seines Gegenüber.
„Na gut, verdammt!“, bellte Dexter und schaffte es dabei sogar, die kleine Maus etwas zu erschrecken. "Ich mache es! Aber wenn das hier vorbei ist, dann ist endgültig Schluss damit, verstanden?! Ich lass dich in Ruhe und du lässt mich in Ruhe! Keine Gefallen mehr, kein Erpressen mehr, keine Gespräche mehr, GARNICHTS!!!“
„Und vergiss nicht ‘kein Fressen mehr‘!“
Wütend knurrte Dexter Tod an und droht ihm: „Wenn das jemals einer erfährt, wirst du dir wünschen, ich hätte dich NUR gefressen!“
Eher unbeeindruckt, deutete Tod dem Fuchs sich auf zu machen: „Komm! Die Zeit ist gerade günstig. Holen wir uns das Ei!“
Mürrisch wand sich Dexter der Maus ab und marschierte los Richtung Bauernhof, als Tods nervige, kleine Stimme ihn wieder stoppen ließ. „Was denn jetzt noch?!“, fragte der Fuchs.
„Du bist mit deinen langen Beinen viel schneller als ich. Und außerdem ist es ein langer Weg bis zum Bauernhof“, beklagte Tod sich.
„Ja und?“
Um noch unmissverständlicher zum Ausdruck zu bringen, was sie wollte, formulierte die Maus ihr Begehr um: „Trag mich!“
Dexter gefiel die ganze Sache immer weniger und weniger. „Ich mache mich für dich doch nicht zum Affen!“, knurrte er. „Soweit kommt’s noch, dass ich für eine Maus das Haustier spiele!“
„Darf ich dich daran erinnern, dass ich dir immer noch mit der Enthüllung deines Geheimnisses drohe?“
„Darf ICH dann DICH daran erinnern, dass wir gesagt hatten, dass jetzt damit Schluss sei?!“, erwiderte Dexter.
Aber Tod war ihm wie immer einen Schritt voraus: „Also wenn ICH MICH recht erinnere, dann hieß es ‘wenn das hier vorbei ist, dann ist endgültig Schluss damit‘. Deine Worte, Dex.“
Widerwillig, knurrend und gedemütigt legte Dexter sich auf den Boden, um Tod auf seinen Rücken zu lassen. Die winzigen Mäusepfoten, die ihm durch das Fell krabbelten, waren mit Abstand das Erniedrigenste und Ekelhafteste, was er je auf seinem Körper gespürt hatte. Wie diese mickrige, unbedeutende, schäbige, kleine Maus es sich anmaßen konnte, ihn als Transportmittel zu missbrauchen!
Behutsam schlich Dexter durch den Wald, um sicherzugehen, dass ihn niemand sehen würde, während eine Maus auf seinem Rücken ritt.
Tod, indes, genoss die Erfahrung die Welt zur Abwechslung mal aus einer anderen Perspektive als vom Erdboden aus zu sehen. Neugierig reckte er den Hals, sodass er über Dexters Kopf schauen konnte. Es wäre durchaus möglich, dass er die Erste Maus überhaupt war, die die Welt mit den Augen eines Fuchses sehen konnte.
So ging die Reise für den einen zu schnell und für den anderen nicht schnell genug vorbei, als Dexter schlussendlich vor dem Holzzaun des Bauernhofes zum Stehen kamen. Noch einmal prüfte er die Umgebung mit seinen scharfen Augen, stellte sicher, dass weder Wachhund noch Bauer zu sehen waren und machte den Hühnerschlag in der Ferne aus. Dann unterschritt er den Zaun. Zumindest wollte er das, aber Tod hielt ihn wieder zurück.
„Warte, warte! Lass mich vorher runter! Ich riskier doch nicht mein Leben für ein Ei!“
Wütend schnaubte der Fuchs und legte sich wieder ins Gras, um Tod absteigen zu lassen. „Könntest ruhig ein bisschen Engagement zeigen, Maus. Immerhin riskier ich hier MEIN Leben für ein Ei. Und dann hab ich nicht mal was davon!“, murmelte Dexter.
„Was du davon hast, ist, dass ich unser Geheimnis für mich behalte, Dex.“
„Das meinte ich mit ‘mein Leben riskieren‘“, antwortete Dexter. „Wenn ich da runter gehe, komm ich vielleicht nicht wieder lebend zurück und wenn ich mich weigere und du mich verrätst, dann ist mein Leben ruiniert.“
„Dann hast du wenigstens einen Grund, es zu schaffen“, sagte Tod, als er von Dexters Rücken hopste und im Gras landete.
Ohne sich auf weitere Argumentationen mit der Maus einzulassen, schlich Dexter los und überquerte die Weide, die zwischen dem Wald und dem Hof des Bauern lag. Auf der Wiese grasten sonst nur Kühe, vom Menschen dummgezüchtete Viecher, die nun lediglich dazu dienten, ihre Halter mit Milch zu beliefern. Im Wald hatte man schon seit dutzenden Generationen keine freie Kuh mehr gesehen. Heute lagen die Rinder am anderen Ende der Weide, was es Dexter leicht machte unbemerkt auf den Hof zu gelangen.
Der Hühnerschlag lag, glücklicherweise, nicht ganz auf der dem Wald abgewandten Seite. Allerdings befand sich zwischen den Stallungen und dem sicheren Wald das Wohnhaus des Bauern. Das könnte ein Problem darstellen, wenn er Aufmerksamkeit erregen würde. Nur nicht erwischen lassen, war also die Devise!
Der Wachhund musste irgendwo auf dem Grundstück sein, soviel stand fest. Aber Dexter wusste nicht, ob er einen festen Platz hatte, an dem er nun möglicherweise schlief, oder ob er über den Hof lief. Erschnüffeln konnte er ihn nicht, denn sein Geruch war hier überall. Alles was er durch die Geruchsspuren herausfinden konnte, war wo der Hund oft entlangging und wo er sich nur selten aufhalten musste. So konnte er wenigstens versuchen ihm aus dem Weg zu gehen.
Aus dem Bauernhaus drangen keine Geräusche zu ihm vor, was aber nicht bedeuten musste, dass der Bauer, oder andere Menschen, nicht zuhause seien. Vielleicht war auch der Wachhund im Haus?
Leise und vorsichtig umrundete Dexter das Haus des Bauern und konnte nun den Hühnerstall sehen. Ein kleiner Verschlag, der an den größeren, eigentlichen Stall für die Kühe angebaut worden war, und ein kleines, eingezäuntes Areal als Auslauf für die Hühner besaß.
Was für ein erniedrigendes Dasein das sein musste, als Haustier für die Menschen dahin zu vegetieren und einzig dazu am Leben zu sein, um ihnen Nahrung zu spenden, dachte Dexter. Dann doch lieber als Knecht für diese mickrige Maus Eier klauen.
Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, um über solche Dinger vor sich hinzuphilosophieren. Er musste auf der Hut sein. Zwischen dem Hühnerstall und dem Haus war der Geruch des Wachhundes besonders stark. Dexter musste also schnell sein. Und leise.
Die Hühner waren, wie von Tod bereits angedeutet, in ihrem Stall und schienen zu schlafen. Das Gehege war leer und die kleine Luke, durch die die Hühner rein und raus gingen, stand offen. Der Zaun, welcher aus Holzpflöcken und einem feinen Drahtgeflecht bestehend, war etwa doppelt so hoch wie Dexter, wenn er aufrecht stand. Eigentlich war es kein Problem ihn zu überspringen, aber wenn er entdeckt würde und überstürzt flüchten müsste, könnte ihm der Zaun durch einen ungeschickten Fehler zum Verhängnis werden.
Aber es nutzte nichts. Zum Umkehren war es nun zu spät, also schaute er sich noch einmal um und machte dann einen gekonnten Satz aus dem Stand, als die Luft rein war. Seine Landung wurde durch Matsch und Hühnerdreck gebremst. Nicht unbedingt die angenehmste Erfahrung, aber wenigstens ließ es sich auf dem moddrigen Untergrund besser schleichen als auf Laub oder Gras.
Leise, langsam, und mit vorsichtigen Schritten näherte er sich dem Holzschuppen und vergewisserte sich abermals, dass er noch unentdeckt war. Dann steckte er vorsichtig seinen Kopf durch die Öffnung des Stalles.
Im inneren war es dunkel und relativ ruhig. Nur ein leises Glucksen, Rascheln oder Kratzen war hin und wieder zu hören. Die Dunkelheit machte dem Fuchs nichts aus, denn durch seine scharfen und trainierten Augen konnte er selbst in der finstersten Nacht noch sehen.
Die Hühner saßen, fein aufgereiht, auf hölzernen Brettern an den Wänden der Behausung, auf denen sich, in kleinen Kästen und Boxen, Nester aus Stroh befanden. Das Stroh lag auch auf dem Boden, also musste Dexter vorsichtig sein, um nicht zu rascheln. Auf der anderen Seite gab es aber auch hier genug Mist und Dreck, um seine Schritte zu dämpfen.
Auf der untersten Sprosse der regalartigen Hühnerbetten waren, gleich vorn am Eingang, drei der Boxen unbelegt. Nachdem Dexter diese genauer inspiziert hatte, stellte er fest, dass sie auch keine Eier beinhalteten. Das verkomplizierte die Aktion immens, denn nun musste er einem der Hühner das Ei buchstäblich ‘unter’m Arsch wegklauen‘.
Bis jetzt hatte ihn das dumme Federvieh noch nicht bemerkt, aber das konnte sich ganz schnell ändern. Es brauchte nur ein Huhn wach zu werden und die anderen aufzuschrecken, und kein noch so verpennter Wachhund würde ihn dann noch übersehen können. Selbst die Menschen mit ihren primitiven Ohren würden ihn dann hören können.
Dexter hoffte also ein Ei zu finden, welches er leicht unter einem der Hühner hervor ziehen könnte, aber natürlich blieb auch dieser Wunsch unerfüllt. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als seine Schnauze unter eines der Hühner zu schieben, um dort nach einem zu greifen. Und das OHNE dabei besagtes Huhn zu wecken. Einen Moment lang dachte Dexter daran, ohne Beute zurückzukehren, aber die Schmach konnte er sich nicht geben. Darüber hinaus würde Tod ihn nur erneut dazu zwingen ein Ei zu beschaffen.
Leise seufzte der Fuchs und fragte sich, ob es das wirklich wert war. Ohne eine Antwort zu finden, presste er behutsam seine Nase gegen jenes Huhn, das ihm als das am festesten schlafende schien. Durch die Berührung wachte es nicht auf.
Vorsichtig stupste Dexter das Tier an und es schlief immer noch weiter. Peinlich, dachte Dexter. Einem freilebenden Vogel wäre so etwas nicht passiert. Aber umso besser für ihn.
Zögerlich tastete er sich weiter vor, schob seine Schnauze unter das Huhn, fühlte nach einem Ei und konnte den nicht gerade schmeichelhaften Duft des Tieres besser riechen, als ihm lieb war. Er hing nun schon so weit unter dem Vieh, dass er außer Federn nichts mehr sehen konnte. Als er mit der Nasenspitze die kahlen Hühnerbeine berührte wusste er: Dort war kein Ei!
In dem Moment hätte er vor Wut in tausend Stücke explodieren können! Musste er sich auch ausgerechnet das Huhn aussuchen, das kein Ei ausbrütete. Er hätte sich einfach eins schnappen und ihm den Hals umdrehen sollen, bevor es Alarm schlagen konnte.
Fast wäre dem Fuchs ein Schnauben entkommen, aber er konnte es im letzten Moment noch zurückhalten, um das Huhn auf seinem Gesicht nicht zu wecken. Stattdessen zog er sich langsam zurück. Erst ließ er die Hühnerkrallen von seinem Maul gleiten, dann zog er seine Schnauze ein Stück zurück und ließ das Huhn auf sein Bett hinab, bevor er seine Nase endgültig befreien konnte. Es grenzte an ein Wunder, dass das Tier nicht aufgewacht war!
Aber was einmal geklappt hat, muss auch ein zweites Mal funktionieren. Also nahm sich Dexter das nächste Huhn vor und wiederholte sein Vorgehen. Stupsen, Schieben, Tasten... Und dann – tatsächlich – konnte er mit der Nase die glatte, harte Schale eines Eies fühlen. Ganz vorsichtig drehte er sein Maul zur Seite und öffnete langsam seine Kiefer, um es sich zu schnappen. Und dann plötzlich hörte er es.
Genau zwischen seinen Ohren fing das Huhn, unter dessen Hinterteil er gerade nach Eiern suchte, an zu gackern: „F-Fuchs! Fuchs! FUCHS!!!“
Aufgeschreckt durch den ungebetenen Besucher, latschte das dumme Huhn über Dexters Gesicht und flatterte aufgeregt durch den Stall. Natürlich war sofort die gesamt Hühnerschah hellwach und gackerte lauthals mit: „Fuchs! Fuchs! Fuchs!“
Eilig nahm Dexter das entblößte Ei mit dem Maul auf und stürmte quer durch das Geflügelgewusel zum Ausgang. Kaum draußen angekommen konnte er auch schon den Wachhund in geringer Ferne bellen hören. Jetzt musste es schnelle gehen!
Mit Anlauf sprang er über den Zaun und achtete angestrengt darauf, dass das Ei ja nicht zu Bruch ging. Plötzlich war auch Tumult im Bauernhaus zu hören. Hecktisches Herumgetrampel und wildes Geraschel.
Und dann tauchte auch der Hund auf, der Dexter mit lautem Gebell hinterherjagte. „Fuchs! FUCHS!!!“, rief er, genau so dumm wie die Hühner, die er bewachen sollte. „Komm her du mieser Fuchs! Ich schnapp dich! Ich reiß dich in Stücke!“
Dexter rannte so schnell er konnte, und ehrlichgesagt hätte er es sich etwas schwieriger vorgestellt, dem Wachhund zu entkommen, aber der Köter schien durch sein sorgloses Leben bei den Menschen eingerostet zu sein. Vielleicht war er auch bloß faul gewesen? Dennoch war da noch der Bauer, der jeden Augenblick mit seiner Flinte auftauchen und auf ihn schießen würde. Und doch, trotz all dieser Umstände, konnte Dexter nur an eines denken: Pass um Himmels Willen auf, dass das verdammte Ei heil bleibt!
Währenddessen kläffte der Hund hinter ihm weiter nach seinem Herrchen: „Chef! Chef, komm schnell! Da ist ein Fuchs! Ich schnapp ihn! Ich hab ihn gleich!“
Aber noch bevor der Bauer ganz aus seiner Haustür getreten war und zum Zielen ansetzen konnte, war Dexter auch schon über die Weide gesprintet und wieder im schützenden Wald verschwunden. Auf seiner Flucht raste er noch an Tod vorbei, der immer noch bei dem Weidezaun auf den Fuchs wartete.
Als der rote Blitz an ihm vorbeisauste und er den nahenden Hund sah, der ihm folgte, beschloss auch die Maus sich zurückzuziehen.
Einige Augenblicke später trafen sich Fuchs und Maus wieder, tief im Wald wo sie vor dem Menschen und seinem Haushund sicher waren. Vorsichtig legte Dexter das hart erkämpfte Ei auf den Boden und schnauzte den Mäuserich an: „Da hast du dein verfluchtes Ei, Tod! Weißt du eigentlich, was ich durchgemacht habe, um da ran zu kommen?!“
„Reg dich doch nicht so auf, Dex. Immerhin hast du’s ja in einem Stück zurückgeschafft. Und das Ei ist auch ganz geblieben!“
Wütend knurrte er Tod an: „Jetzt nimm dein Ei und verschwinde endlich! UND NENN MICH NICHT IMMER DEX, VERFLUCH NOCH MAL!!!“
„Also, eiiiiigentlich...“, sagte Tod und rollte das Ei in seinen kleinen Pfoten hin und her. „Dachte ich, du würdest das Ei für mich tragen.“
„Da hast du falsch gedacht! Ich sollte dir ein Ei besorgen, da hast du eins! Jetzt lass mich in Ruhe!“
„Aber Dexter!“, rief Tod und nannte den Fuchs bei seinem richtigen Namen, um ihn nicht noch weiter zu provozieren. „Wie soll ich denn mit dem riesigen Ei durch den Wald kommen? Es wäre doch jammerschade, wenn es zerbrechen würde und deine ganze harte Arbeit umsonst gewesen wäre, oder?“
„Maus!“, entfuhr es dem Fuchs, bevor er sich hinhockte und seinen Kopf vor Tod auf den Boden niederdrückte, sodass ihre beiden Nasen nur noch eine Haaresbreite voneinander entfernt waren. „Ich bring der verdammten Schlange das Ei, aber dann ist Schluss! VERSTANDEN?!!!“ Zornig knurrend fletschte er die Zähne, sodass die Maus sein Gebiss in aller Deutlichkeit bestaunen konnte.
In diesem Moment wurde Tod wieder einmal besonders klar vor Augen geführt, was Dexter eigentlich war und auf was für ein gefährliches Spiel er sich da eingelassen hatte. Beschwichtigend stimmte er Dexters ‘Vorschlag‘ zu: „Also gut. Komm wir gehen.“
Diesmal verzichtete er auch auf den Ritt auf Dexters Rücken, denn er fürchtete, dieses Mal könnte der Fuchs es ihm wirklich übel nehmen. Auf diese Weise brauchten sie zwar ein bisschen länger, aber Dexter konnte sein Gesicht vor der Schlange waren und Tod lief nicht Gefahr doch noch gefressen zu werden. Schließlich erreichten sie den Tigerpython mit dem unversehrten Ei.
„Hmmm... Das ist neu“, bemerkte die Schlange, als sie das ungewöhnliche Duo sah. „Ein Fuchs, der einer Maus behilflich ist.“
„Ich begleiche meine Schuld, so wie er offensichtlich seine begleicht. Dich dürfte das doch wohl kaum verwundern?“, log Dexter, als er das Ei in sicherer Entfernung zum Python auf der Erde ablegte.
„Oh, solange ich nur bekomme, was ich will, geht mich der Rest nichts an“, erwiderte Bao als er langsam auf das Ei zugeschlängelt kam. „Es war nur ein seltsamer Anblick. Zumal du ja der Grund für die Schuld der kleine Maus warst, wenn ich mich recht erinnere.“ Sein langer Körper schlang sich um das Ei und er untersuchte es mit seiner gespaltenen Zunge, die aus seinem Maul schnellte.
„Damit wäre meine Schuld dann also beglichen, oder?“, fragte Tod ungeduldig.
Aber zumindest in dieser Hinsicht schien das Sprichwort ‘Schlangen sind geduldig‘ zu stimmen, denn Bao ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und labte sich zunächst an der feinen Köstlichkeit, die ihm präsentiert wurde. Das ganze Ei auf einmal schob er sich ins Maul. Zwischen den Kiefern des Reptils wirkte das Hühnerei eher wie das einer Taube.
Langsam schloss sich das Maul und dann war ein leises Knacken zu hören, als die Eierschale brach. Man konnte dem Python durchaus ansehen, dass er den Leckerbissen genoss. Genüsslich schlürfte er das Ei, bis nur noch die Schale zurückblieb, die er, zu Tods und Dexters beider Entsetzen, auch noch verschlang. Aber eigentlich war das nicht wirklich verwunderlich. Denn immerhin konnte Bao Tiere von Dexters Größe im Ganzen schlucken. Mit Fell und allen Knochen! Da dürfte wohl eine Eierschale sein kleinstes Problem sein.
Als das von Dexter so mühsam erlangte Ei so einfach in der Schlange verschwunden war, stimmte Bao Tod zu: „Schuld beglichen!“
„Na endlich!“, stöhnte Dexter. „Dann kann ich ja jetzt wohl gehen, oder?“
„Einen Augenblick noch!“, verlangte die Schlange. Er entrollte sich und rutschte auf Dexter zu, doch blieb stehen, als er sah, das der Fuchs zurückwich. „Wie wär’s mit einem kleinen Deal?“, fragte Bao und zischelte mit der Zunge. „Du bringst mir weiterhin Eier, und im Gegenzug dafür bring ich dir etwas, an dem ein bisschen mehr dran ist als an einer mickrigen Maus oder einem zähen Kaninchen. So ein Fuchs wie du, der kommt bestimmt eher an ein paar Eier ran als diese kümmerlichen Nagetiere!“ Noch einmal kam er ein Stück auf Dexter zu, und diesmal blieb der Fuchs stehen. „Also, was sagst du?“
„Nein, danke!“, sagte Dexter mit allem gebührenden Nachdruck. Die Aussicht auf eine größere Beute klang zwar verlockend, aber die Mühen wäre es sicher nicht wert gewesen. „Ich habe erst mal genug von Abmachungen und Deals.“ Dann drehte er sich um und ging.
„Mmmm, schade!“, murmelte Bao und schlängelte ebenfalls davon, ohne der Maus noch weitere Beachtung zu schenken.
Über diesen Umstand war Tod eher erleichtert als verärgert, obwohl die Schlange schon sehr abfällig über Seinesgleichen gesprochen hatte. Aber so waren die ‘großen‘ Tiere des Waldes nun einmal. Immerhin hatten nun alle bekommen, was sie wollten: Bao konnte sein Ei genießen, Dexter konnte sein Geheimnis weiterhin in Sicherheit wissen und Tod war die elende Schlange los. Jeder hatte gewonnen. Zugegeben, Dexter hatte für seinen verhältnismäßig bescheidenen Gewinn das größte Opfer gebracht, aber so war die Natur nun einmal: Hart und unfair. Die kleine Maus wusste das nur zu gut. Darüber hinaus war die Natur aber noch etwas: Unberechenbar. So schien es Tod wenigstens ein bisschen gerecht, dass gerade sein Erzfeind nun dieselbe harte Lektion lernen musste, wie er einst.