Die Wolkendecke ließ nur vereinzelte Sonnenstrahlen durchkommen und gab der sonst so malerischen Küste eine bedrückende, fast schon bedrohliche Atmosphäre. Für Simon wirkte sie jedoch nach wie vor magisch. Der kühle Wind, der über die Dünen peitschte, der dadurch aufgewirbelte Sand, welcher sich hartnäckig in sein Dachsfell einnistete…all diese Dinge machten die Insel zu dieser Jahreszeit zu einem unvergesslichen Schauplatz der Natur. Und der Geruch. Dieser Geruch von Algen, Meersalz und Fernweh. Wo jeder andere seine Nase rümpfen würde, saugte Simon den Geruch mit aller Kraft in seine Schnauze ein. Selbst im Auto, die Fenster nur einen Spalt geöffnet, konnte er den Duft des Meeres wahrnehmen. Seine Vorfreude stieg ins unermessliche und er musste sich ermahnen, nicht vor Entspannung die Augen zu schließen, während er den alten Kombi die schmale geschotterte Straße entlang manövrierte.
Der Wagen selbst roch nach Kiefernnadeln. Der Geruch des Duftbaums, welchen er im zarten Alter von 24 mit einem Ruck komplett aus der Plastikverpackung gerissen und an den Rückspiegel seines ersten Autos gehangen hatte, hat wohl bis auf alle Ewigkeit seinen Platz in den Polstern in Anspruch genommen. Erst drei Tage später hatte ihn seine Mutter in ihrer üblichen Lautstärke darauf hingewiesen, dass man diese Dinger nur immer ein kleines bisschen aus der Verpackung rausnimmt. „Da schenken wir dir ein Auto und du schaffst es, das Ding noch in der ersten Woche fahrunfähig zu machen!“, hatte sie damals gesagt. Simon liebte seine Mutter und er wusste auch, dass sie alles, was sie in ihrem schnippischen Tonfall sagte, nie ernstmeinte. Aber dieser Satz hatte eine Narbe hinterlassen. Keine große, aber eine, die er nie mehr loswerden würde. Sollte er dazu verdammt sein, alles was er anrührt zu verderben?
16 Jahre später war der beißende Geruch zu einem angenehmen Duft übergangen, für welchen er sogar Komplimente bekam. „Dein Auto riecht immer so gut.“, sagten immer seine Arbeitskollegen, wenn er sie an Tagen nach der Arbeit mitnahm, an denen es in Strömen regnete und die Bushaltestelle 500 Meter zu weit entfernt war, als dass man sich die Strecke hätte antun wollen. Kombiniert mit dem typischen Regengeruch – egal zu welcher Jahreszeit – fühlte man sich in Simons Auto schnell so als wäre man in einem Nadelwald irgendwo im Nirgendwo. Er mochte die Natur. Und er mochte sein Auto. Noch mehr mochte er aber die Person auf dem Beifahrersitz.
„Gut, dass wir schon alles eingekauft haben. Ich hätte echt keine Lust, nachher nochmal loszumüssen.“ – „Amen.“, gab Simon nur beipflichtend zurück und sah leicht nach rechts rüber. Jacob hatte seinen Ellbogen an der Kante des Fensters abgestützt und schaute mit einem sanften Lächeln hinaus in die flache und einladende Landschaft. Keine Seele weit und breit. Hier wären sie ungestört. „Schon ʼne Idee, was du heute noch machen willst?“, fragte er Simon und wandte seinen Blick dabei nicht vom Fenster ab. Das mochte er so an ihm. Diese kleinen Dinge. Diese kleinen Dinge, wie dass er diesen Ausblick als so kostbar empfand, dass er keine Sekunde davon verlieren wollte. Selbst, wenn sie drei Tage hier verbringen würden. Jede Sekunde war für Jacob heilig. Das wusste Simon.
„Nicht viel. Das Haus begutachten, ausräumen, am Strand spazieren gehen. Vielleicht gemeinsam unter die Dusche hüpfen, je nachdem wie groß die ist.“ Mit dem letzten Satz schaffte es der Dachs tatsächlich, einen Blick von Jacob zu gewinnen. Der Braunbär sah mit gehobenen Augenbrauen zu ihm herüber und sein Lächeln verstärkte sich. „Duschen? Ernsthaft?“ – „Wieso nicht?“ Ein kurzes Schweigen füllte den Innenraum des Kombis, während sich Jacob überaus auffällig nach links und rechts umdrehte und mit seinen Händen in gefühlt alle Himmelsrichtungen gleichzeitig zu zeigen versuchte. „Hallooo? Wir sind am Meer? Hier wird nicht geduscht! Wir haben die größte Badewanne der Welt direkt vor unserer Haustür!“ Simon konnte sich das Lachen nicht verkneifen und er kratzte sich verhalten an seinem großen, stämmigen Rücken. „Recht hast du. Aber zu viel Salz im Fell ist ungesund. Früher oder später werden wir richtig duschen müssen.“ – „Musst du eigentlich immer der erwachsenere von uns beiden sein? Schon seit wir klein waren warst du immer der vernünftigere.“ Jacob nahm seine große Bärenpfote und legte sie behutsam auf Simons Schulter. „Hör doch mal auf damit.“ Ein Lachen hallte durch den Kombi. „Ich werde mir Mühe geben.“
Mit der einen Hand noch am Lenkrad griff Simon Jacobs Pfote und hielt sie sanft vor sein Gesicht. Wieder musste er sich ermahnen, die Augen nicht zu schließen, während er den Duft in sich aufsaugte. Diesen unglaublich intensiven Geruch, für den er einfach keine Worte fand und welcher seine Pupillen innerhalb einer halben Sekunde weiten ließ.
Sie waren am obersten Zipfel der Insel angelangt. Ringsherum gab es nichts außer Strand, Meer und das Kreischen der Möwen. Und das Ferienhaus, welches durch eine Kilometerlange oberirdische Stromleitung nicht komplett von der Außenwelt abgeschnitten war. Dennoch war es weit genug von der nächsten Siedlung und somit auch von anderen Häusern entfernt, sodass sich Simon und Jacob keine Sorgen machen mussten, dass plötzlich spontaner Besuch von benachbarten Urlaubern kam. Mit Koffern und Taschen bis zum letzten Finger beladen – denn nur Idioten laufen zweimal zum Ausladen Richtung Auto – fanden sie sich in dem großen geräumigen Wohnzimmer wieder.
Vor 10 Jahren war es noch ein verlassener Campingplatz gewesen, welchen Simon und Jacob für ihr gemeinsames Beisammensein genutzt hatten. Die Abgeschiedenheit und die starke Naturverbundenheit hatten auch diesen Ausflug unvergesslich werden lassen. Mit dem zunehmenden Alter sollte jedoch auch die Abneigung gegenüber unbequemen Isomatten und Mosquitos steigen und so hatten sich die beiden entschieden, das Budget für diese Reise ein bisschen höher anzusetzen. Als sie im Wohnbereich mit der offenen Küche standen und das Interior sahen, bereuten beide es keineswegs, ein bisschen mehr Geld für diesen Anlass ausgegeben zu haben.
„Oh man, sieh dir mal die Küche an! Ich werde dir so ein abgefahrenes Dinner zubereiten, dass dir Hören und Sehen vergeht.“ Jacob hetzte zur den Arbeitsplatten und begutachtete den Inhalt der einzelnen Schubladen. „Gusseiserne Pfannen, ein riesiger Induktionsherd…verdammt, lass uns einfach hierbleiben!“ Wieder ein lautes Lachen, das niemand außer die beiden hören sollte. „Nichts lieber als das!“
Simon strich sich mit der Hand einmal über den Nacken. Das tat er immer, wenn er nervös war. Wie von selbst bewegte er sich zielstrebig zu Jacob hin, welcher aus einem der unteren Schubladen eine riesige Auflaufform hervorholte. Doch als Simon plötzlich neben ihm stand, ließ er sie wieder zurück in die Schublade gleiten. Er kannte diesen Blick. Diesen Blick, mit dem er ihn förmlich auszog. Für einige Sekunden war es totenstill im Haus. Nur das leise Surren des Kühlschranks und das Säuseln des Windes drang an ihre Ohren. Dann hielt es Simon schließlich nicht mehr aus. Er machte einen großen Schritt nach vorne und drückte seinen Mund voller Gier gegen Jacobs, welcher vor Überraschung aufstöhnte.
Doch Simon wusste es besser. Dieser Bär hatte nur darauf gewartet, dass Simon den ersten Schritt macht. Und den zweiten und dritten. Gierig drückte sich seine Zunge in Jacobs Mund hinein und umkreiste diese. Hemdknöpfe flogen mit sanftem Klopfen auf den Boden, losgelöst vom Stoff, welcher nicht weniger grob von ihrem Fell heruntergezerrt wurde. Simon öffnete seine Augen einen Spalt. Er sah, wie Jacob durch sein braunes Fell hindurch errötete. „Wollen wir…das ins Schlafzimmer verlegen?“ – „Vergiss es.“, gab Jacob nur zurück, welcher hektisch und ungelenk seine Hose auszog. Simon tat es ihm gleich und beobachtete mit einem leicht fragenden Blick den muskulösen Braunbären, wie er seinen Hintern mit einem Satz auf die Arbeitsfläche bugsierte. „Keine Zeit, das Schlafzimmer zu suchen. Außerdem…wollte ich das schon immer mal machen.“
Einzelne Sonnenstrahlen hatten sich ihren Weg durch die Wolkendecke und durch die Fenster hinein in das Ferienhaus gebahnt. Es sollten die letzten Sonnenstrahlen des Tages sein. Für Simon hätten es auch die letzten auf Erden sein können. Die Hosen an den Füßen baumelnd lagen beide verschwitzt auf dem Küchenfußboden, nach Atem ringend. Der Dachsmann spürte, wie sein Herz raste und nur allmählich wieder zu seinem normalen Takt zurückkehrte. Schweißtropfen rannen durch das Fell seinen Rücken hinab und sein Hintern vernahm ganz langsam die Kälte der Fliesen. „Ver…dammt…“, schnaufte er und starrte in die integrierten LED-Leuchten an der Decke. „Ich hätte gestern Abend echt nochmal Hand anlegen sollen. Dann hätte ich mindestens doppelt so lange durchgehalten.“ – „Bist du bescheuert? Willst du mich umbringen?“ Wieder grinste der Dachs und sah herüber zu Jacob. Sein braunes Fell war ganz zerzaust und mindestens so nassgeschwitzt wie sein eigenes. Seine süßen dunklen Augen starrten ihn ungläubig an. „Vielleicht hast du es vergessen, aber ich bin auch keine 20 mehr. Ich bin froh, wenn ich nachher beim Essen einigermaßen sitzen kann!“ Beide lachten wieder laut auf, während draußen die Nacht allmählich Einhalt gebot. Simon rollte sich auf Jacobs Seite und sah ihm tief in seine dunklen Knopfaugen, während er sanft seine Stirn streichelte. „Du bist so ein Schwätzer.“ – „Und genau das liebst du an mir.“ – „Ja…das tue ich.“
Wieder war da diese Stille. Dieses Mal jedoch noch intensiver als die letzte. Noch schöner und gleichzeitig doch so schmerzhaft. Viele Sekunden hielt sie an, während sich beide einfach nur in die Augen sahen. Dann brach der Braunbär das Schweigen. „Duschen und dann Essen?“ – „Klingt nach einem Plan.“
Nur in einem der Bademäntel bekleidet, welche für die beiden vor ihrer Ankunft bereitgelegt wurden, hatte Jacob wenigen Minuten ein simples und trotz der Zutaten und seiner jahrelangen Erfahrung famoses Nudelgericht gezaubert, welches die beiden im Esszimmer zu sich nahmen. Während Jacob in der Küchenausstattung das Highlight des Hauses gefunden hatte, war es für Simon der Plattenspieler und die beachtliche Vinylsammlung gewesen. Frank Sinatra sang Fly Me to the Moon, während der Dachs die Spaghetti mehr ungeschickt als galant auf seiner Gabel aufrollte und anschließend in seinen Mund beförderte. Jacob beobachtete ihn dabei von der anderen Seite des Tisches.
„CEO eines Unternehmens mit über 50 Mitarbeitern, aber Essmanieren wie ein Sozialfall.“ Schelmisch grinsend sah er zu Simon rüber, welcher den Blick erwiderte. „Pardon, Madame. Ich gelobe Besserung, sodass ich mehr ihrem Anspruch gerecht werden kann und Ihnen keine weitere Häme beschere.“ So übertrieben wie möglich, verbeugte sich Simon im Sitzen und stieß dabei fast das Rotweinglas herum. Er mochte den Geschmack. Aber er war weit entfernt von dem, was man als Sommelier bezeichnen würde. Laut Jacob war es ein Jahrgang, dessen Wert sich im oberen dreistelligen Bereich bewegte. Für Simon wiederum hätte es auch der billige Tetra-Pack-Fusel aus dem Discounter getan.
„Keine Sorge, Monsieur. Sie bereiten mir keine Schäme.“ Simon runzelte die Stirn. „Ach nein?“ Die Nadel des Plattenspielers rückte weiter vor und ließ Nat King Cole erklingen, wie er die Buchstaben des englischen Wortes für Liebe besang. „Auch nicht, wenn ich das tue?“
Wie von der Tarantel gestochen sprang Simon vom Tisch auf und rannte zum Plattenspieler. In nur wenigen Sekunden hatte er die Lautstärke um ein Vielfaches erhöht und vom Kaminsims den Schürhaken geschnappt. Dann versetzte er seinen ebenfalls nur im Bademantel bedeckten Dachskörper auf den Wohnzimmertisch und sang in den Schürhaken hinein. „Oh Gott, nein. Hör auf!“ Nun sprang auch Jacob auf und kam beschämt auf ihn zu. „L is for the way you look at me…“ – „Komm da runter, man!” – “O is for the only one I see…” – “Wenn dich irgendwer sieht, dann…!” – “V is very, very extraordinary…” – “Oh Gott, du bist so peinlich…!” Aber Simon war in seinem Element. „E is even more than anyone that you adore!“
In seinem ganz eigenen peinlichen Element, indem er sich für den schönsten Mann der Welt tausend Mal zum Idioten machen würde. Nur um ihn lachen zu sehen. Und da war es auch schon. Dieses Lachen. Dieses engelsgleiche vor seinen großen bärigen Händen verdeckte Lachen, das sein Herz immer und immer wieder zum Hüpfen brachte. „Love was made for me and you!“
Nat King Coles Band setzte zum Finale an und Simon tat es ihr gleich, indem er sein Mikrofon in eine Trompete verwandelte, welche er voller Hingabe spielte.
Als die letzte Note erklang, erfüllten Jacobs Jubelrufe und sein Applaus das Wohnzimmer. In gespielter Manier verbeugte sich Simon mehrere Male und hielt dabei die Augen geschlossen. Selbst ein einfaches „Zugabe!“ klang aus dem Mund dieses Bären besser als jede Musik dieser Welt. Der nächste Song setzte an. Wieder eine Trompete. Doch dieses Mal unter der Führung von Louis Armstrong, welcher Georgia besang. Ganz sanft und im ruhigen Takt.
Der Dachs warf den Schürhaken auf das Sofa neben sich und streckte Jacob seine Hand entgegen. Er sah, wie dessen Wangen durch das Fell hindurch rot wurden. Erst zögerte Jacob. Dann griff er zu und ließ sich von Simon auf den Wohnzimmertisch hochziehen, welcher ihn sanft an sich drückte und in eine führende Position ging. In sanften Schritten bewegten sich die beiden rhythmisch im Kreis, während sie der Musik und dem Geräusch des Windes lauschten, welcher draußen seine ganz eigene Melodie spielte. So vergingen die Minuten und Simon verlor sich immer mehr in Jacobs Augen.
Es hätten Stunden sein können, in denen sie dort standen und sanft nach links und rechts schunkelten. Tage, Wochen, das alles wäre Simon recht gewesen. Zeit hatte für ihn in diesem Moment keine Bedeutung. Und doch holte sie ihn ein, als der Jazz aus den Boxen im Wohnzimmer verstummte. Die Platte war durchgelaufen, sodass nur noch der Sturm säuselte und er wieder ein Gefühl für Zeit und Raum bekam. Nein…das wollte er nicht. Er wollte nicht wieder in der Realität ankommen. Nicht jetzt. Er war noch nicht be-
Doch er kam gar nicht dazu, seinen Gedanken zu beenden. Stattdessen spürte er wieder diese weichen Lippen an seinem Mund. Die wunderschönsten Lippen dieser Welt, wie sie sich gegen seine drückten. Aus der Tanzhaltung wurde eine umschlingende Umarmung. Der erst zärtliche Kuss wurde leidenschaftlicher. Simon stöhnte in Jacobs Mund hinein und ließ seine Hand langsam Jacobs Rücken hinuntergleiten, welcher noch immer lediglich vom Frottee des Bademantels umhüllt war.
Es brauchte eine Weile, bis Jacob sich von Simons Lippen losreißen konnte. „Jetzt Schlafzimmer?“ – „Worauf du wetten kannst.“
Als Simon am nächsten Morgen am Schlafzimmerfenster auf dem Boden saß, lediglich bekleidet in seiner Boxershorts, hatte die Melancholie Besitz von ihm ergriffen. Da war diese tiefe Traurigkeit in ihm, die wie die Sonne am Horizont langsam aufstieg und ihm die Bedeutung von Zeit schmerzhaft klarwerden ließ. Zeit. Sie hatten viel zu wenig davon. Dieser Gedanke ließ den Dachsmann einfach nicht los, während er sich mit seiner Schulter am Fenster anlehnte und hinaus in die Wellen starrte.
Die Sonnenstrahlen bahnten sich immer weiter ihren Weg über den Horizont. Er wusste, dass er jeden Moment mit Jacob genießen musste. Jede verdammte Sekunde. Ganz langsam wandte der Dachs seinen Blick vom Meer ab und drehte seinen Kopf in die andere Richtung, hinein in das Schlafzimmer. Er sah zu dem Braunbären, welcher in der wohl unbequemsten Schlafhaltung überhaupt beide Seiten des Bettes für sich in Anspruch genommen hatte.
Schnell wischte sich Simon mit der linken Hand durchs Gesicht und stützte sich mit der rechten vom Boden ab, um zur Bettkante zu gehen und den Mann, für den er sterben würde, aus der Nähe zu betrachten. Ganz langsam streichelte er Jacob durch das Fell. Es war noch leicht zerzaust von ihrer gemeinsamen Nacht und stand in alle Richtungen, sodass es noch flauschiger wirkte als ohnehin schon.
Ganz langsam holten Simons Berührungen den Bären aus dem Schlaf. Mit Sabberfäden am Mund und Schlafsand in den Augen blickte Jacob zu dem Dachs auf und lächelte müde. „Wie spät?“, fragte er ihn unter lautem Gähnen. „Fast sieben.“ Jacob blinzelte mehrere Male, bevor er zu protestieren begann. „Und dann bist du schon wach? Was ist los mit dir, verdammt?“ Träge robbte er sich näher zur Bettkante und versuchte Simon zu sich auf die Matratze zu ziehen. „Komm wieder ins Bett, mein Großer.“ – „Nichts da! Das Frühstück macht sich nicht von selbst, junger Mann.“ – „Junger Mann? Ich bin 41, verdammt…“
Mit seiner typischen Schmollstimme vergrub Jacob seinen Kopf unter seinem Kissen. „Ein Grund mehr, weswegen du endlich aufstehen solltest!“ – „Komm schon! Noch fünf Minuten!“ Simon seufzte laut auf. „Na gut. Fünf Minuten. Wenn du dann nicht aufgestanden bist, dann kitzele ich dich aus dem Bett!“ Mit bösen zusammengekniffenen Augen blickte Jacob unter dem Kissen hervor. „Das würdest du nicht wagen.“ – „Du kannst es ja herausfordern und dann sehen wir, was passiert.“ Dann verließ Simon mit einem neckischen Grinsen das Schlafzimmer.
Letzten Endes hatte Simon Gnade walten lassen und sich alleine um die Frühstückszubereitungen gekümmert. Auch den Proviant für den Tag hatte er vorbereitet, sodass die beiden während ihrer Ausflüge keinen Hunger leiden mussten. Zwar standen beide seit vielen Jahrzehnten mit beiden Beinen fest im Berufsleben und auch in leitenden Positionen, aber sie wussten auch, dass Selbstgemachtes in den meisten Fällen am besten schmeckte.
Ganz entspannt genossen die zwei den Morgen und verbrachten den Vormittag mit einem mehrstündigen Spaziergang an der Küste. Das Wetter zeigte sich auch heute wieder von der unfreundlichen Seite und ein feiner Nieselregen untermalte das Raue der See zusätzlich. Ohne Jacke und Kapuze wäre es kaum auszuhalten gewesen und Simon und Jacob spürten die eiskalten Wassertropfen auf ihren Händen, welche ineinander verhakt waren. Sie in die Taschen zu stecken, wo sie vor der Kälte und dem Regen geschützt waren, wäre wohl angenehmer gewesen. Aber für keinen der beiden stellte das eine Option dar. Während beide den groben Sandstrand entlanggingen, redeten sie über die verschiedensten Dinge. Viel über das damals, ein wenig über das jetzt. Nichts über die Zukunft. Die machte ihnen Angst.
Damals war alles in Ordnung. Sie hatten sich mit 12 Jahren im Sommercamp kennengelernt. Sowohl Simon als auch Jacob hatten sich in ihrer kleinen Stadt überaus einsam gefühlt, stets mit dem Gedanken im Hinterkopf, irgendwie anders zu sein als andere Kinder…irgendwie falsch. Als beide nahezu jede Sekunde gemeinsam im Camp verbracht hatten, war da plötzlich dieses Gefühl in Simons von grauem Fell überzogener Brust gewesen. Dieses Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Endlich jemanden zu haben, der einen verstand. Der einem ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Als Jacob ihm dann noch erzählte, dass er nur wenige Straßen entfernt wohnte, konnte Simon sein Glück kaum begreifen. Damals wusste er jedoch noch nicht, wie er seine Gefühle Jacob gegenüber in Wort fassen sollte.
Er wusste schnell, dass das nicht einfach nur Freundschaft war, was er diesem süßen Bärenjungen gegenüber empfand. Jedes Mal, wenn einer von beiden über das Wochenende beim anderen übernachtete und sie eng aneinander auf den Luftmatratzen auf dem Boden lagen, wurde Simon ganz warm im Gesicht. Schon damals wollte er ihn küssen. Doch die Angst, dass Jacob ihn abweisen würde, war viel zu groß gewesen. Irgendwann hatte Simon es schließlich aufgegeben, den Mut zu finden und Jacob zu sagen, was er für ihn empfand.
Mit 16 Jahren, als Jacobs Eltern über das Wochenende nicht zu Hause waren und die Jungs das Haus somit drei Tage für sich allein hatten, sollte sich die Situation schließlich ändern. Sie hatten sich im Keller von Jacobs Elternhaus eine Flasche Bourbon genommen und gemeinsam in der Küche getrunken. Dabei hatten sie Wahrheit oder Pflicht gespielt. Während dieses Spiels sollten sich beide schließlich bis auf die Unterhose ausgezogen und die peinlichsten Geschichten erzählt haben. Als Jacob sich schließlich zwischen Wahrheit oder Pflicht entscheiden musste und Wahrheit gewählt hatte, hatte Simon alles auf eine Karte gesetzt.
„Magst du mich?“ Simon erinnerte sich noch genau daran, wie schwummrig ihm an diesem Abend gewesen war. Wie die Wanduhr leise tickte und die Sekunden verstrichen waren, in denen er auf Jacobs Antwort gewartet hatte. Und er hatte mit dem schönsten Wort geantwortet, dass es auf der Welt gab.
„Ja.“
Dann war es kurz still in der Küche gewesen. „Du weißt, wie ich das meine…“, hatte Simon leise gestammelt. Er hatte kaum realisiert, was Jacobs Antwort gewesen war. Er konnte es einfach nicht begreifen. Auch sein nächstes „Ja.“ hatte für ihn so surreal gewirkt. Angetrunken vom Bourbon hatte die gesamte Situation sein Gesicht nahezu brennen lassen.
Aber Jacob hatte Mut bewiesen, war aufgestanden und hatte sich nur in seiner Shorts bekleidet auf Simons Schoß gesetzt. Dann war er da. Der erste Kuss. Dieser süßlich-bittere Kuss, der dafür sorgte, dass für die beiden die gesamte Welt mit einem Mal stillstand. Da war keine Schule mit ätzenden Lehrern oder nervigen Rüpeln, die ihre blöden Sprüche über die Gänge brüllten und die sich manchmal ins Gedächtnis brannten wie Feuer.
Da waren keine Zukunftsängste, wie es nach der Schule weitergehen sollte. Was man mit seinem Leben tun sollte. Kein Vater, der einem am Abendbrottisch immer wieder unmissverständlich zu verstehen gab, dass man als Sohn nicht gut genug war. Keine Schreie von Mama, wenn ein Streit mal wieder eskalierte. Nein. Da war nur noch Wärme. Diese unbeschreibliche Wärme und das Gefühl, das alles gut werden würde.
Und dieses Gefühl hielt an. Jedes Mal, wenn die beiden wieder zusammenwaren, war da wieder dieses Gefühl in Simons Brust, dass alles gut wird und dass die Welt gar nicht so furchtbar war. Und er war sich sicher, dass Jacob genauso fühlte. So vergingen die Stunden und Tage an der Küste, in welchen die Unbeschwertheit kein Ende kannte.
Bis zum letzten Abend. Der letzte Abend vor der Abreise war immer wieder mit Schmerz verbunden. Zu wissen, dass sie bald wieder voneinander Abschied nehmen mussten, zerriss Simon jedes Mal aufs Neue das Herz. Und doch versuchte er auch dieses Mal, selbst die letzten Stunden zu genießen und das Unausweichliche zu verdrängen. Das bittersüße Gefühl, während die beiden sich das letzte Mal im Esszimmer gegenübersaßen und danach im Wohnbereich in traditioneller Löffelposition auf dem Kunstledersofa lagen, wollte jedoch einfach nicht abebben.
Wie jeden Abend lief auch an diesem wieder der Plattenspieler im Hintergrund und hellte die Stimmung in Simons Herzen etwas auf. Dieses mal aber mit entspannender Pianomusik. Nach Jazz hatte sich Simon heute einfach nicht gefühlt.
Als er so auf der Seite lag und Jacob von hinten eng an sich drückte, war ihm fast so als würde es ihm das Herz zerreißen. Seine Schnauze lag direkt an Jacobs Schulter. Sein Geruch allgegenwärtig. Nein, er wollte nicht weinen. Er konnte nicht weinen. Das hatte er sich versprochen, bevor er Jacob damals mit dem Auto abgeholt hatte. „Sei einmal in deinem verdammten Leben ein Mann, du Pfeife!“, hatte er vor der Reise zu seinem Spiegelbild im Wohnungsflur gesagt, bevor er die Haustür geöffnet hatte und zu seinem Kombi in der Einfahrt gegangen war. Ein Mann sein…was hieß das überhaupt…
„Wann willst du morgen losfahren?“, fragte der Braunbär plötzlich von vorne und riss Simon aus seinen Gedanken. Die Frage traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Die Realität holte ihn ein. Keine Zeit mehr für Träume. Morgen war alles vorbei. Der Dachsmann holte tief Luft, bevor er zur Antwort ansetzte und die Tränen damit runterschluckte. „So gegen 10 denke ich. Dann ist der Verkehr vielleicht nicht ganz so schlimm und wir können noch entspannt frühstücken und hier aufräumen.“
"Klingt gut.“, erwiderte Jacob. Seine Stimme klang entspannt. Leicht. Nicht aufgeregt. Als wäre nichts los. Als würden sie hier nicht seit Jahren ein furchtbares Spiel spielen, das am Ende nur Narben hinterließ. Als wäre ihm alles komplett egal. Als wäre-
Dann drehte sich der Braunbär zu Simon und sah ihn direkt an. Seine dunklen Knopfaugen waren ganz glasig und seine Mundwinkel zitterten vor Schmerz. „Ich…ich kann…“ Simon erstarrte. Mal wieder war er viel zu schwer von Begriff gewesen.
Von einer Sekunde auf die nächste brach Jacob in Tränen aus und drückte sein Gesicht in Simons Brust. Kaum einen klaren Satz brachte er hervor, während er immer wieder laut aufschrie und versuchte, gegen den Schmerz anzukämpfen. Nur ein Satz war immer wieder klar zu verstehen.
„Es tut mir so leid!“ Immer und immer wieder sagte er diese Worte wie ein Mantra, in der Hoffnung, dass es alles besser machen würde. Aber das tat es nicht. Die Worte änderten nichts. Gar nichts. Sie sorgten nicht dafür, dass sich die Zeit zurückdrehte und man die Vergangenheit ändern konnte. Nichts ließ sich aufhalten. Niemals.
Auch nicht seine Liebe zu ihm. Nichts hätte dafür sorgen können. Und so wahrte Simon den Schein, dass er der stärkere von den beiden war und drückte Jacob ganz feste an sich.
„Es ist alles gut. Ich bin ja da.“
Zehn Minuten lang heulte Jacob einfach nur in Simons Fell hinein und mit der Zeit wurden seine Worte allmählich klarer. „Ich bin so verflucht dämlich. Warum bin ich nur so dumm…“ Irgendwann wagte es Jacob schließlich, sein Gesicht von Simons Fell wegzudrücken und ihm in die Augen zu sehen. Sein Gesicht war inzwischen ganz verquollen und sein Fell komplett durchnässt. Selbst in Momenten tiefster Trauer war er für Simon der schönste Mann auf der ganzen Welt.
„Kannst du mir jemals verzeihen?“ Wieder weiteten sich Simons Pupillen. Dieses Mal jedoch nicht vor Verlangen, sondern vor Überraschung. Dann griff er mit beiden Händen Jacobs Gesicht und drückte seine Stirn gegen Jacobs. „Das habe ich doch schon längst.“ Wieder brach der Braunbär in Tränen aus und presste sich wieder an den Dachs. „Mein kleiner Dösbaddel.“
Ganz sanft streichelte Simon Jacobs Kopf und drückte ihm dabei immer wieder einen Kuss auf. Noch immer ging der Plattenspieler wenige Meter neben dem Sofa seiner Arbeit nach und erfüllte das Haus mit sanften Klavierklängen. „Ich bin da.“, sagte er zu Jacob, während er ihn weiterhin fest an sich drückte. „Es wird alles gut.“ Wieder saugte er seinen Duft in sich auf und er spürte erneut, wie sein Puls ruhiger und sein Herzschlag langsamer wurde.
„Es wird alles gut.“
Immer wieder sagte er diese Worte zu Jacob. Und zu sich selbst. Und mit jedem weiteren Mal glaubte er diese Worte ein klein wenig mehr. Viele Minuten später schliefen beide schließlich vor Erschöpfung auf dem Sofa ein.
„Nein, du liegst vollkommen falsch! Steve Buscemi ist der beste Schauspieler in Reservoir Dogs!“ – „Bullshit! Madsen ist der Beste!“ – „Was macht Madsen denn so besonders, hä? Er hat einfach nur dieses Psychogesicht, für das er nicht einmal was tun muss! Buscemi spielt mit seiner Mimik und wirkt dadurch authentischer als Madsen es jemals sein könnte! Deswegen hatte Tarantino ihn auch nicht für Pulp Fiction gecastet!“ – „Das ist absoluter Schwachsinn! Madsen hat bei Pulp Fiction nicht mitgemacht, weil er schon für Wyat Earp unterzeichnet hatte. Sonst hätte Tarantino ihn sofort genommen! Informier dich doch einmal, bevor du sowas dummes von dir gibst!“ – „Glaubst du eigentlich alles, was die Klatschpresse dir erzählt? Madsen wurde nicht für Pulp Fiction genommen, weil Travolta einfach die bessere Wahl für die Rolle des Vincent Vega war. Stell dir die Szene in der Wohnung und dem Burger einfach mal mit Madsen statt mit Travolta vor. Das wäre einfach nur furchtbar!“
Der Kombi hatte die Stadtgrenze bereits erreicht und Simon bog von der Stadtautobahn hinein in das Wohnviertel, welches für seine schicken Häuser und guten Schulen bekannt war. Die ganze zweite Hälfte der Fahrt hatten die beiden über ihre Lieblingsfilme diskutiert und damit dem Schweigen der ersten Hälfte der Fahrt den Kampf angesagt. Der Dachs wusste, dass keiner von beiden diese Tage mit einem alles zermürbenden Schweigen beenden wollte. So entstand schnell eine hitzige Diskussion über Filme, ihre Regisseure und die Wahl der Schauspieler, welche belangloser nicht sein konnte. Doch es war genau diese Belanglosigkeit, die Simon und Jacob brauchten. Einfach eine Ablenkung.
Der Herbst nahm allmählich Besitz von der Stadt und färbte ihre Straßen und Bürgersteige in das schönste rot. Ein Anblick, der Simon ganz warm ums Herz werden ließ. Er liebte diese Jahreszeit und den Geruch von Laub fast genauso sehr wie den Geruch des Meeres.
„Das kannst du doch gar nicht wissen! Oder hast du etwa eine Fassung von Pulp Fiction mit Michael Madsen als Vincent Vega auf VHS bei dir zu Hause rumliegen?“ – „Vielleicht. Willst du gleich mit reinkommen und nachschauen?“ – „Ich passe. Aber danke für das Angebot.“
Beide lachten, während der Kombi die schmalen Straßen entlangfuhr. Keine zehn Pferde hätten Simon mit in Jacobs Haus kommen lassen. Niemals hätte er das ertragen können. Das wusste er.
Mit einem leisen Quietschen kam der Kombi am Straßenrand vor der Hausnummer 34 zum Stehen. Simon saugte den Geruch des Kiefernwaldes ein, welcher sich in seinen Polstern verewigt hatte. Da war es wieder. Dieses Zittern in seinem Unterkiefer, das er einfach nicht abstellen konnte. „Da wären wir.“ So sehr es auch versuchte. „Du hast ja nur deine Tasche auf der Rücksitzbank, nicht?“ – „Genau. Ist nicht viel. Du brauchst wirklich nicht mit hochkommen.“ – „Okay.“
Mehr wollte der Dachs nicht mehr sagen. Er wollte nicht, dass seine Stimme ihn verriet. Auch wenn er sich bei Jacob bedanken wollte. Dafür, dass er ihn nicht noch zusätzlich quälte. Dafür, dass die letzten Tage ohne Frage die schönsten in seinem gesamten Leben waren. Dafür, dass Jacob ihn akzeptierte. So wie er war.
Aber er schaffte es nicht.
Schweigen füllte den Wagen und drückte Simons Herz bis in die Magengrube. Seine rechte Hand hatte sich um den Schaltknüppel gekrallt. Mit aller Kraft hielt er ihn fest, damit nicht auch noch seine Gliedmaßen mit dem Zittern anfingen. „Hey, falls du Weihnachten nicht bei deiner Familie verbringen willst…“
Wie erstarrt blickte Simon einfach nur geradeaus und bis sich auf die Unterlippe. Er konnte ihn nicht ansehen. So sehr er es wollte. Für dieses Angebot hatte er ihn gehasst. So sehr er ihm vorhin noch danken wollte, dass er diesen Abschied nicht noch schwerer machte, so sehr wollte er ihn für diese Worte verachten. Doch er durfte nicht. Er durfte ihn nicht hassen. Nicht den einzigen Menschen im Leben, der ihn nahm wie er war. Und deswegen durfte er ihn jetzt auch nicht ansehen. So sehr sein ganzer Körper danach schrie, er durfte nicht. Dann wäre alles vorbei gewesen.
Er spürte, wie Jacobs Hand sich plötzlich auf seine legte, welche noch immer den Schaltknüppel umklammerte. „Entschuldige.“ Wieder dieses Schweigen. Wie sehr es hasste. Wie sehr es verabscheute. Wie sehr er sich in diesem Moment verabscheute. „Bis zum nächsten Mal.“
Noch immer sah der Dachsmann starr geradeaus durch die Windschutzscheibe. Nur das Geräusch der sich öffnenden Autotür verriet ihm, dass er plötzlich keinen Beifahrer mehr hatte. Ein lautes Knallen. Er saß alleine im Wagen. „Atmen, Simon. Atmen.“ Ganz flach sog der Dachsmann die Luft durch seine Nase ein und legte den ersten Gang ein. Noch einmal schloss er die Augen. Das Geräusch des Motors surrte an seinem Ohr und verhärtete seine Schuldgefühle. Er musste sich halbwegs anständig verabschieden. Wenigstens ein freundliches Winken, während er langsam am Haus vorbeifuhr.
Noch einmal atmete Simon tief ein, öffnete anschließend die Augen und setzte seinen Wagen langsam in Bewegung, während er seinen Blick halb nach rechts wandern ließ. Und da sah er es.
Das Haus hatte einen klassischen Holzrahmen, welcher in grau und weiß gestrichen war. Ein typisches Vorort-Haus mit einer großen Veranda und einem strahlend grünen Rasen davor. Die großen Fenster ermöglichten einen kleinen Blick in die große Wohnküche und das klassisch eingerichtete Wohnzimmer. Auf der Veranda stand Jacob, wie er seinen Sohn im Arm hielt, während er Julia einen Kuss gab.
Seine Tasche hatte er auf die Veranda gelegt. Der Kleine strahlte über beide Ohren. Simon konnte sehen, wie aufgeregt er mit seinem Vater redete. Vermutlich erzählte er ihm all die Dinge, die er erlebt hatte, während Jacob weg war. „Wie groß Toby schon ist…“, dachte Simon leise, während er mit großen Augen langsam die Straße entlangfuhr.
Judy war nach wie vor eine bildhübsche Bärenfrau. Sie trug eine gestreifte Bluse und einen kurzen blauen Rock, welcher von einer weißen Schürze bedeckt wurde. Auch sie lächelte von einer Wange zur anderen und küsste ihren Mann, den sie drei Tage lang nicht gesehen hatte. Dann sah sie hinunter zur Straße. Und winkte Simon zu. Der Dachsmann erwiderte den Gruß und setzte ebenfalls dabei ein Lächeln auf.
Dabei fragte er sich, ob sie irgendwas ahnte. Auf der Hochzeit hatte er ein paar Mal für einige Minuten mit ihr geredet. Dumm hatte sie auf ihn nicht gewirkt. Ganz im Gegenteil. Aber wenn sie etwas ahnte…nahm sie die ganze Sache dann einfach so hin? Akzeptierte sie es einfach, weil sie wusste, dass Jacob immer zu ihr zurückkehren würde? Beim letzten Gedanken warf Simon einen letzten Blick zu Jacob. Auch er hatte seine Hand zum Gruß gehoben, während er seinen Sohn noch immer auf dem Arm hielt.
Und so glücklich aussah.
So unendlich glücklich.
Dann beschleunigte Simon den Wagen und legte die Hand wieder an den Schaltknüppel. Er fuhr ruhig und gelassen durch die belebten Straßen, achtete auf den Gegenverkehr und atmete ruhig und entspannt. Eine unglaubliche Leere füllte seinen Geist, während er wieder auf die Schnellstraße fuhr und die Masse an Leuten, welche alle ihr glückliches Leben lebten, hinter sich ließ. Zwei Stunden klang nur das Geräusch des Motors an seine empfindlichen Dachsohren, während die Sonne den Bergen am Horizont immer näherkam und die Straßen in ein angenehmes Rot färbte, welches den Herbst noch schöner aussehen ließ. Dann bog er ab, runter von der Schnellstraße, hinein in die Wälder.
Etwa zehn Kilometer hatte Simon den Kombi durch die verlassenen Straßen gelotst, welche nur wenig Sonnenlicht durchließen. Dann verließ er auch diese und bog auf einen verlassenen Rastplatz ab. Alte Kiefernnadeln füllten den Waldboden und die wenigen Sitzgruppen aus nassem morschem Holz, welches wohl seit Jahren keine Besucher gesehen hat. Dann schaltete er den Motor ab. Stille. Das klacken der Tür. Ganz langsam stieg der Dachsmann aus seinem Wagen und nahm einen tiefen Atemzug. Der Geruch von Kiefern und Baumharz war allgegenwärtig und Simon dachte wieder daran, wie er damals den Duftbaum gekauft hatte. Da war er 24 gewesen. Jetzt war er 43 und stellte sich die Frage, was er in diesen Jahren erreicht hatte. Was war wirklich von Belangen?
Mit diesen Gedanken schlich er langsam um seinen Wagen und lehnte sich gegen die Motorhaube. Er sah sich um. Der Rastplatz erinnerte ihn an den alten Campingplatz, auf welchem er früher mit Jacob gewesen war. Sein Blick wanderte nach oben. Das Rot war inzwischen einem dunklen Blau gewichen, welches die ersten Sterne zutage brachte.
Seine Gedanken wanderten zum Sommercamp, in welchem er Jacob kennengelernt hatte. Eines Nachts hatten sich beide heimlich aus ihrer Hütte geschlichen, um sich gemeinsam am See die Sterne anzusehen. Dabei hatten sie einfach nur geredet. Über ihre Hobbys. Über ihre nervigen Eltern. Über die noch nervigere Schule. Und darüber, dass zu zweit alles doch nur halb so schlimm war.
„Du bist nett. Ich mag dich.“, hatte Jacob in seiner naiven Stimme gesagt und Simon damit eine unheimliche Wärme in die Wangen gezaubert, welche vermutlich durch sein dichtes Dachsfell hindurch gestrahlt hatte. „Ich mag dich auch.“ Dann hatte Jacob seine Hand gegriffen. Ganz fest, wie einen kostbaren Schatz, den er niemals verlieren wollte.
Erst als die Sterne vor seinen Augen verschwammen, realisierte Simon, dass er weinte. Kleine Rinnsale bildeten sich seine Wangen entlang, in welchen sich die Tränen ihren Weg durch das Fell bahnten und es ganz nass werden ließen. Mit dem Handrücken versuchte er, sie wegzuwischen. Stattdessen wurden es nur mehr. So viele Tränen, die er einfach nicht aufhalten konnte. Dann begann das Schluchzen. Dieses jämmerliche Schluchzen, welches er mit aller Kraft zu unterdrücken versuchte. Aber es half nichts. Nichts sollte helfen. Er war verloren. Er hatte verloren. Hatte ihn verloren. Das wusste er.
Aus tiefstem Hass schrie Simon über den Rastplatz, hinein in den Kiefernwald, auf dass der Schmerz erträglicher werden würde. Dann schrie er noch mal. Und noch einmal, während er unentwegt auf die Motorhaube seines Wagens einschlug. Immer und immer wieder ließ er seine Fäuste auf das Blech niederprallen. Der Schmerz in seiner Brust ebbte nicht ab.
Wieder ein Schrei.
Er spürte, wie die Haut an seinen Fingerknöcheln einriss und sein Fell sich an den Stellen blutrot färbte. Schmerz. Es schmerzte. Es schmerzte so unendlich stark.
Wieder ein Schrei.
Drei Minuten lang malträtierte der Dachsmann seinen Wagen und weinte dabei bittere Tränen der Verzweiflung. Der tiefsten Verzweiflung, welcher er einfach nicht Herr werden konnte. Ganz langsam wurden seine Schläge langsamer. Bis er schließlich vor Erschöpfung vor seinem Wagen zusammenbrach.
Zusammengekrümmt lag er auf dem von Erde und Kiefernnadeln bedeckten Waldfußboden und weinte.
„Wir bleiben für immer Freunde, ja?“, hatte Jacob ihn damals gefragt, als Simon das erste Mal bei ihm übernachtet hatte. Die Erinnerung daran ließ ihn ein letztes Mal aufschreien, nun aber leiser. Seine Hals brannte vor Schmerzen und lenkte ihn allmählich von seinen brennenden Knöcheln ab.
Während er so dalag, ertappte sich Simon dabei, wie er sich wünschte, dass sich die Handbremse seines Kombis löste und der Wagen ihn einfach überrollte. Dass es einfach vorbei wäre. Dann müsste er nicht mehr leiden. Nicht mehr an ihn denken. Nie wieder. Er liebte ihn. Er liebte ihn so sehr. So sehr, dass es weh tat. So unendlich weh. Es sollte einfach aufhören. „Bitte…mach, dass es aufhört…“, flehte er, während er sein Gesicht in den Boden drückte. „Es soll aufhören…“
Er wusste nicht einmal, wen er da um Hilfe bat. Seine Eltern? Die waren schon lange nicht mehr. Geschwister hatte er keine. Gott hatte in seinem Leben noch nie einen Platz gehabt. Freunde? Die hatte er nicht. Nur diesen einen. Und der konnte ihm nicht helfen. Er war allein. Ganz allein.
Und das würde er auch bleiben.
Das wusste er.